Lotterschreck 2

Von Johannes Morschl

Früher hatte Lotterschreck an offenen Lesebühnen teilgenommen, wo jede/jeder ihre/seine schriftlichen Ergüsse vorlesen konnte, doch ermüdete ihn die Teilnahme an offenen Lesebühnen immer mehr, diese oft tragischen oder krampfhaft originell sein wollenden Gedichte, oder diese oft banalen bis todlangweiligen Texte, die da vorgetragen wurden. Am schlimmsten fand er die Leute, die sich in Fantasy-Geschichten versuchten. Was kam da für ein hanebüchenes Zeug heraus! Nur selten war bei den Lesungen etwas dabei, das ihm wirklich gefallen hatte und wo er sich gedacht hatte, die oder der habe echt etwas drauf. Er war immer öfter während der Lesungen eingeschlafen. Er war zwar wegen seiner Texte, die er dort vortrug, ab und zu gelobt worden, war sich aber nie sicher, inwieweit das ehrlich gemeint oder bloß Lobhudelei war. Manchmal hatte er den Eindruck, er beteilige sich an einem Jahrmarkt der Eitelkeiten. Aber immerhin war er da wenigsten ein- oder zweimal im Monat unter die Leute gekommen, und da waren ja auch ab und zu Leute dabei, die durchaus Ahnung von Literatur hatten und mit denen er über Literatur diskutieren konnte, ja sogar über Thomas Bernhard. Dieses geradezu Zwanghafte an Thomas Bernhards Romanen mit den ständigen Wiederholungen schien so manche, die an Literatur interessiert waren, anzusprechen. Wenn man etwa ein Gedächtnisproblem hat, wird man ja in fast jedem Satz von Thomas Bernhard daran erinnert, was das Hauptthema und wer die Protagonisten des Romans sind.

Eine graue Wolkendecke hatte sich über das Viertel, in dem Lotterschreck wohnte, geschoben. Lotterschreck fantasierte, dass es jeden Moment Blut regnen könnte, Blut aus der Ukraine, Blut von ukrainischen und russischen Soldaten, Blut von Zivilisten, Blut von Tieren, die im Kriegsgeschehen schwer verletzt wurden oder zu Tode gekommen waren. Dann begann es plötzlich zu schütten, es kam aber kein Blut aus der grauen Wolkendecke, nur normaler Regen. Es schüttete und schüttete immer heftiger. Es wollte nicht aufhören zu schütten. Thomas Bernhard hätte daraus einen Roman machen können, in dem es von Anfang bis Ende in jedem Satz schütten würde, so stark schüttete es, dachte Lotterschreck. Der Titel des Romans hätte Das Schütten lauten können, entsprechend dem Roman Die Pest von Albert Camus. Aber dann dachte er, dass das Das bei Schütten das Schütten zu sehr verallgemeinern und somit verharmlosen würde. Besser wäre es, den Roman Es schüttet wie aus Eimern zu betiteln. Dies würde seines Erachtens viel eher dem realen Vorgang dieses Schüttens aus der grauen Wolkendecke entsprechen. Da wäre man gleichsam schon beim Lesen des Titels mitten im Schütten drin, würde zum Regenschirm greifen und ihn während des Lesens über sich aufspannen. Lotterschreck holte seinen Regenschirm und spannte ihn über sich auf, legte ihn aber bald wieder weg, da es sich als äußerst unpraktisch erwies, in der Wohnung mit einem aufgespannten Regenschirm herumzusitzen, und erst recht, wenn er schreiben wollte. Er fragte sich, ob schon jemals eine Schriftstellerin oder ein Schriftsteller mit aufgespanntem Regenschirm in der einen Hand, mit der anderen Hand geschrieben hätte, während es draußen wie aus Eimern schüttete.

Dann musste er wiedereinmal an seine letzte Freundin Wanda denken. Was hätte sie zu seinen Überlegungen über das Schütten gesagt? Wahrscheinlich hätte sie einen kräftigen Schluck aus ihrer Flasche mit 40-prozentigem spanischen Brandy genommen, die sie immer in Reichweite stehen hatte, und dann mit ihrer ihn so elektrisierenden Kontra-Alt-Stimme gesagt: „Alter Mann, dir haben sie ins Hirn geschissen. Das kommt davon, wenn man den Genuss von geistigen Getränken verabscheut. Da verblödet man an notorischer Nüchternheit,“ und Ähnliches mehr. Und er wäre von ihrer Stimme wieder hingerissen gewesen, hätte vielleicht sogar eine Erektion bekommen, was bei ihm immer seltener vorkam. Er hatte das Gefühl, innerlich zu vertrocknen und langsam in eine Wüste überzugehen, auch in eine geistige Wüste.

Unwillkürlich musste er an Kafkas berühmte Geschichte Die Verwandlung denken, in der Gregor Samsa eines Morgens aufwacht und merkt, „zu einem ungeheuren Ungeziefer“ verwandelt zu sein. Nach Kafkas Beschreibung dieses „ungeheuren Ungeziefers“ handelte es sich um einen riesigen Käfer. Lotterschreck, der ebenso wie vor Ameisen und Bienen auch vor Käfern großen Respekt hatte und schon das eine oder andere Mal einen Käfer, der ihm im Park über den Weg lief, höflich angesprochen hatte, – zum Beispiel: „Sie sind aber ein Prachtexemplar von einem Geotrupes stercorarius, gemeinhin Mistkäfer genannt!“ -, versuchte nachzuempfinden, wie es sich anfühlen würde, zu einem Käfer verwandelt zu sein. Um dies besser nachempfinden zu können, kroch er auf dem schon ziemlich abgewetzten Teppich in seinem Wohnzimmer herum. Er musste aber sofort einsehen, dass er als Abkömmling der Affen absolut ungeeignet zum Käfer war und es auch niemals schaffen würde, sich voll und ganz in die Existenz eines Käfers hineinfühlen zu können, was er als ein echtes Manko empfand. Sich in einen Affen hinein zu fühlen, das schien ihm viel eher möglich zu sein, da man von den Affen abstammte und nicht nur im Aussehen, sondern auch im Verhalten noch viel Äffisches an sich hatte.

Wenn Lotterschreck sich in der Öffentlichkeit aufhielt, schienen ihm manchmal die Leute, denen er begegnete, bekleidete Affen mit Schuhen zu sein, die sich jederzeit mit äffischer Hingabe am Hintern oder am Kopf kratzen könnten und kreischende Laute von sich geben könnten. Manche schienen auch Mühe mit dem aufrechten Gang zu haben, aber nicht nur Besoffene, sondern auch Stocknüchterne, die sich stocksteif bewegten, sodass man befürchten musste, dass sie bei einer etwas stärken Windböe sofort umfallen würden, oder – grober ausgedrückt – auf die Schnauze fallen würden.

Und unter all diesen Zeitgenossen und -genossinnen war man einsam, ja selbst im dichtesten Gedränge war man einsam. Kein Schwein interessierte sich für einen, so wie man sich umgekehrt ebenfalls für kein Schwein interessierte, zumal man noch dazu Vegetarier oder noch schlimmer Veganer war. Ja früher, als man noch ein junger Spund war, dem der Saft aus allen Poren quoll, da lebte man von Luft und Liebe. Aber jetzt als älterer Mann, dem seine letzte Freundin davongelaufen war, da sie ihn nicht mehr ertragen hatte, wovon sollte man da noch leben können? Man war nicht nur äußerlich vereinsamt, zumindest was den Kontakt mit den sogenannten Mitmenschen betraf, sondern auch innerlich vereinsamt. Lotterschreck spürte dies besonders, wenn er nachts an seinem Laptop saß und irgendetwas einigermaßen Zusammenhängendes zu schreiben versuchte. Da spürte er diese ungeheure Leere im Weltall, für das er nicht einmal ein Pünktchen war, für das er de facto gar nicht existierte. Wozu also noch schreiben, dachte er sich dann. Er war ja schon in der Gegenwart nahezu in Vergessenheit geraten und konnte sich selbst nur noch mühsam daran erinnern, dass er offensichtlich noch existierte. Aber nicht mehr lange, sagte er sich. Dieser Gedanke hatte etwas Beruhigendes für ihn. Er konnte die Leute nicht verstehen, die Angst vor dem Tod, vor dem Erlöschen für immer hatten. Für ihn war der Tod eher eine Erlösung, die eigentliche Erlösung, die einzige Erlösung, die es überhaupt gab.

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© 2022 Johannes Morschl
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