Im zweiten Anlauf erwischen wir die Abzweigung. Gut, man weiss ja, dass man nicht in der Schweiz ist. Aber irgendwie stellt man sich auch beim bald zehnten Griechenlandaufenthalt diese Strassenabzweigungen anders vor. Aber da ist er ja, der Wegweiser, der bergan den Weg nach Mesoropi zeigt.
Ja, richtig, nicht weit oben, am Hang, hinter Bäumen, sind Dächer zu erkennen. Einige wenige Minuten später haben wir die wenigen Kehren hinter uns gebracht und stehen auf dem Dorfplatz. Aber, wo ist nun dieser Mesoropi Path, dieser Wanderweg, über dessen Eröffnung sogar der staatliche Fernsehsender EPT berichtete?
In dieser Beiz können sie uns sicher helfen. Oder besser davor. Diese ist nämlich leer. Nur Musik scheppert heraus, damit die in der Gartenwirtschaft sitzenden Gäste etwas davon haben. «Richtig», bestätigt man uns an einem der beiden, besetzten Tische, «der beginnt hier im Dorf – dort ist der Wegweiser.» Na klar – das zweite Aha-Erlebnis innert 15 Minuten. Hier steht es: Monopati – Fussweg. Er weist den Hang empor. Erst bleiben unsere Augen an den Häusern hängen. Die sind ja richtig schmuck herausgeputzt.
Wir entschliessen uns, vor dem Abmarsch in der Gartenwirtschaft die Zahl der Gäste um zwei auf acht zu erhöhen. Und Sofie hat sicher auch Durst. Als sie diesen beim Ablauf des kleinen Brünnchens vor der Beiz diesen stillen will, kommt sie an die Richtigen. «An diesem Brunnen trinken Menschen nicht Hunde», poltert einer über den Platz. Dann halt.
Wir nehmen an einem der Tische Platz. Nein, mein Kopf gibt nicht klein bei. Ich fingere Sofies zusammenklappbaren Wassernapf aus dem Rucksack und fülle ihn beim Brunnen. Trotzig stelle ich ihn vor Sofie hin. Sie dankt es mir mit beherztem Schlabbern. Aber ohne eine spitze Bemerkung geht es aber nicht ab. Claudia sagt: «Als du beim Brunnen warst, hat der „Polterer“ gebrummt, er habe auch Durst.» Ich bin genervt. «Sie könne ihm ja ausrichten», antworte ich, «wenn er Hunger habe, ich hätte auch noch überzählige Hunde-Goodies in der Tasche».
Jetzt sind wir an der Reihe. «Καφές» – «Nές;» – «Nαι, ζεστός, μέτριος» wickelt sich ein kurzer Dialog mit der Serviertochter ab. «Kaffee» – «Nescafé?» – «Ja, warm, mittel (gesüsst)». «Δύο» – «zwei», bestätige ich nickend. Ein Euro 50 kostet eine grosse Tasse mit dem Logo des am Genfersee domizilierten, grossen Lebensmittelmultis. Dass das Pulver vermutlich mit Boilerwasser angerührt wurde, nehmen wir ihn Kauf.
Wir marschieren los – na ja, sagen wir – wir setzen uns gemütlichen Schrittes in Bewegung. Vorbei an der Landwirtschaftlichen Genossenschaft Eintracht und dem Volkskundlichen Museum geht es das Dorf hoch. Es gibt auch noch zwei Lebensmittelgeschäfte und zwei Kirchen. Agios Georgios welche im Kirchenjahr dem neuen – gregorianischen – Kalender folgt, und Timios Prodromos, in der man sich noch an den alten, julianischen Kalender hält.
Wir wollen einen Blick in eine der beiden Kirchen werfen. Sie sind abgeschlossen. Unverschlossen ist eine kleine Kapelle. Wenn man keine Angst vor Körperkontakt hat, finden zwei Personen Platz darin. Vor einer Ikone, auf der der Kirchenheilige St. George abgebildet ist, brennt eine Kerze. Dazu hat es einen Stapel mit dünnen, langen und braunen Kerzen, welche darauf warten, dass jemand einen Euro in das kleine Kästchen mit dem Holzschlitz wirft und eine anzündet. Wir tun das und halten einen Moment inne.
Hier sollte doch irgendwo der Partisanenführer Dimitrios Chatzulas gewohnt haben?
Immer wieder staunen wir über die schönen Häuser. Ob alt und etwas windschief oder neu, keine kitschige Postkartenidylle, sondern einfach schön. Mit etwas Phantasie fällt es leicht, sich vorzustellen, dass gleich irgendein helvetischer Schellenursli oder Alpöhi um die Ecke kommt. Die Ziegen hört man jedenfalls schon meckern. Nur die, in den Himmel ragenden Berggipfel sind nicht aus Granit, Quarz und Gneis, sondern bis zuoberst bewaldet und begrünt. Hier gibt es auch keine Drei- und Viertausender, der Pangeion bringt es auf knapp 2 000 Meter. Diesen steuern wir nun an. Beziehungsweise dessen Richtung. Ein auf eine Gartenmauer aufgemalter Pfeil und in grossen Buchstaben ΜΟΝΟΠΆΤΙ (Wanderweg) bestätigen uns, auf dem richtigen Weg zu sein.
Das Dorf liegt nun hinter uns. Der Weg führt über Magerwiesen, vorbei an Hecken und Trockenmauern. Die Vögel zwitschern, Ameisen schleppen das Vielfache ihres Körpergewichtes wiegendes Baumaterial herum, und in einer Waldlichtung steht eine Dutzende Stöcke zählende, bunte Bienenvölkersiedlung. Zu sehen oder hören ist aber niemand. Zu tun gäbe es auf den prächtig blühenden und spriessenden Matten wahrlich genug. Vermutlich sind die Bienen in einer anderen Himmelsrichtung unterwegs. Frei machen sie kaum, nur weil Sonntag ist.
Das Gehen und die Sonne sind dafür besorgt, dass die ersten Schweisstropfen auf der Stirn perlen. Gut können wir im, alle Grüntöne tragenden Mischwald weitertippeln. Entlang des Nidrios, wie der Bach heisst. Bevor es jetzt teils zügig bergan zu gehen scheint, queren wir ihn über eine neu gemachte Steinbrücke. Ein tipptoppes Bauwerk, besser kann man es nicht machen. Nur das Geländer fehlt. Wohl schon einige Zeit. Die Löcher, in denen die Geländer verankert werden könnten, dienen als «Töpfe» für Gräser und Farne.
Die nächste Brücke – etwa 500 Meter weiter oben – hat ein Geländer. Sie ist deutlich älteren Jahrgangs und aus Runden Holzstämmchen zusammengezimmert, welche einen dürren Eindruck machen. Sie tut aber ihren Dienst und wir kommen auch gut über sie.
Noch einmal 500 Meter weiter oben entschliessen wir uns auf einer Bank sitzend, umzukehren. Mit dem nicht gerade idealen Schuhwerk an den Füssen und den im Auto vergessenen Getränken … abgesehen davon, dass es nie unsere Absicht war, den Pangeion zu besteigen. «Aber warte, wir kommen wieder.»
Beim Abstieg begegnen wir einem aufsteigenden Wanderpaar. «Χαίρετε» – «Grüss Gott», sagt der Mann beim Vorbeigehen. «Καλημέρα» – «guten Tag» antworte ich und ärgere mich. Es ist ja schon bald 16 Uhr, da sagt man längst Kαλησπέρα – guten Abend. Ach, diese Griechen und dieses Griechisch. Γεια σας – Hallo – sage ich zur nachsteigenden Frau. Sie antwortet ebenso. Das passt immer.
Ich setze mich, habe Bolonka-Hündchen Sofie auf dem Schoss. Ich habe sie teilweise getragen. Sie ist froh, die steilsten Passagen nicht gehen zu müssen und das «Taxi» nehmen zu können. Ich befürchte, dass sie sonst bis in 15 Jahren künstliche Hüftgelenke braucht.
Endlich ist Claudia auch wieder da. Ihr Gespräch mit den Wanderern war aufschlussreich gewesen. Mit drei bis vier Stunden müsse man schon rechnen, um auf den Pangeion zu kommen, plus den Weg zurück. Oben habe es auch eine kleine Höhle.
Eine Höhle oberhalb des Dorfes. Mir kommt aus Franz Hohlers Einmanntheater «Die Drachenjagd» Prinz Georg l. in den Sinn. Dieser wollte als Drachentöter in einer Höhle oberhalb Zürichs logieren, als er das Untier töten sollte, das die Stadt bedrohte. Ob es hier auch solche Viecher gibt? Ein Überlebender aus grauer Vorzeit? Schliesslich sollen sich damals Götter, Halbgötter und Heroen am Pangeion mit diesen gegeben haben. Sicher ist, dass die erwähnte Höhle beim Gipfel nicht das einzige Loch dort oben ist. Vielmehr gleicht der Pangeion – dessen Name nicht nur der Gipfel sondern der ganze Hügelzug trägt, wohl einem Emmentaler-Käse gleicht. Schon im 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung sind hier Gold, Silber und andere Bodenschätze abgebaut worden.
Das im Kofferraum vergessene Wasser ist lauwarm geworden. Wir nehmen noch einmal in der Gartenwirtschaft Platz. Nicht nur, weil wie keinen Boilerwasser-Nescafé wollen, sondern Durst haben, bestellen wir einen Tee. Was dauert, sich aber lohnt. Der frisch gebrühte Bergtee schmeckt köstlich.
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© 2022 Hans Peter Flückiger (Text & Bild)
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