N. oder: An der Schwelle

Von Marek Födisch

An der Schwelle. In 15 Stunden geht die 3 in die 4 über. Hinter den Ziffern 1, 9 und 8. Das Schinkenbrot und der Kaffee sind kaum im Bauch. Unten angekommen. Fast. Du auch bald. Du musst weg. Steht im Kalender. Eingerahmt. Rot. Zuvor ein Kuss. Deine Frau vis-a-vis. An der Türschwelle. Zum Treppenhaus. Du machst dich auf. Die ersten Stufen herab. Verlierst ein paar leichte Worte. Weiter. Nach unten. Noch einen kurzen Blick auf dich erhascht. Dein Kopf. Im unscharfen Profil. Eingebrannt. Im Gedächtnis des neunjährigen Jungen. Der Vierjährige schläft noch. Die Kleinste aber, ein paar Wochen alt, hat gerade Hunger. Macht sich bemerkbar. In den Armen der Mutter. Quengelt. Du verschwindest unter den Treppen. Schritte im Ohr. Du trittst heraus. Die Haustür fällt zu. Deine Frau schaut dir nach. Vom Fenster des Wohnzimmers aus.

Unterwegs. Ganze Reihen von Autos vor den Neubaublöcken. Es kann ausgeschlafen werden. Es kann. Du findest dein Tempo. Entlang des gewohnten Weges. An der Turnhalle mit dem halbrunden Wellblechdach vorbei. Rechts, die Krippe. Dahinter, kaum sichtbar, der Kindergarten. So viele Schritte schon auf diesem Weg gegangen, gleiche, tagein, tagaus, die man nicht zählen kann. Heute bewegst du dich auf dünnem Eis. Zugefrorene Pfützen. Etwas Schnee liegt darüber. Du steckst dir eine „f6“ zwischen die Lippen. Zündest sie an. Ziehst. Tief. Qualm umgibt dich flüchtig wie eine Aura. Verschwindet im Nirgendwo. Auch der im linken Blickfeld aufsteigende Heizhausdampf flieht. Durch die Kälte hindurch. In Richtung Sonne. An diesem ahnungslos diffusen Morgen. Du schlägst dem Winterfrost ein Schnippchen, denkst du, in warmer Vorfreude auf kommende Stunden. So einfach. So. Während das alte Jahr abzudanken hat. Während der Kaffee deinen müden Geist aus den Augenhöhlen jagt. Und auch Du wirst gezogen. Es glimmt Hoffnung auf.

Silvesterfeier im Kombinat. Ankommen. Ablegen. Verlegen. Verwegen. Erinnerungen an frühe Jahre, hier, im Chemieanlagenbau, kommen hoch. Spielen mit gezinkten Karten. Fordern dich auf, mitzuspielen. Nach deren Regeln. Du schiebst sie beiseite. Im Stillen. Tauchen nur widerwillig ab. Sehen Land … Umsehen. Wer da ist. Wer nicht da ist. Sich platzieren. Sich mit der Zeit durch dichte Rauchschwaden kämpfen. Durch Schnaps. Durch Exportbier. Menschliche Umrisse zuordnen. Konturen, weich geraucht und in totale Verzerrung gesoffen. Unentwegtes Zerfließen. Frischluft wird hereingelassen. Heraus, die schallende Musik aus der Konserve: Deep Purple, Smokie, Sweet. Dann ist wieder alles klar. Den älteren Schweißern ist es zu laut. Außerdem wollen sie lieber Deutsches hören, wie jedes Mal. Die Brigade wächst noch immer. Minütlich. Es ist für alles gesorgt. Lange Tische. Tafeln beinahe. Belegte Brötchen. Salzstangen. Und natürlich Getränke, das heißt: Bier, Wein und Spirituosen. Bohnenkaffee und Tee gibt es auch. In begrenzten Mengen. Dafür umso mehr Tanz! Tanz der Kranführerinnen. Tanz der Kranführerinnen mit Kubanern. Gastarbeiter. Techtelmechtel. Olé! Meinetwegen, bildest du dir ein. Na ja, denkst du gereizt. Hin und wieder fallen Stühle um. Aus Platzgründen. Knallen wie mit Schalldämpfung, nahezu unbemerkt, ins Stimmengewirr der kleineren Halle des Betriebes. Eine kurze Randnotiz. Zwischen den Schlücken. Der Meister meint, er muss bald aufbrechen. Mithelfen beim Kartoffelsalat.

Rosi! Du triffst sie. Unerwartet. Mit Blicken zuerst. Später, mit deinem Glas unter ihrer Nase, ist sie dir greifbar nahe. Rosi. Für dich. Nur für Dich! Gegenseitiges Verstehen. Ohne Anlauf. Ein Prosit auf die Zeit! Lange vor der Schwelle. Auf der du heute morgen deine Frau geküsst hast. Ein Prosit auf die scheinbar verlorengegangene Liebe! Eine alte und zähe Liebe. Unter Stahlträgern und Scheinwerfern. Inmitten des ausgelassenen Trubels. Nicht zu schade, einer gewissen Erregung anheimzufallen. Vor den neidischen oder empörten Blicken der Kollegen. Du bist doch verheiratet! Der Brigadier verabschiedet sich. Bei allen. Auch bei dir.

Der Nachmittag im Werk übergibt die Geschäfte kommentarlos und satt dem frühen Abend. Dieser sinkt trunken dahin. Weiter. In Etappen. Heiter meist. Du sitzt ihr schräg gegenüber. Nach dem Flirt. Nach dem Abschweifen ins Vergangene. Und gelegentliche, mehrdeutige Andeutungen folgen. Von dir. Von ihr. Durchkreuzen die schwere Tabakluft und das bierselige Getratsche. Ohne zu stören. Versteht sich. Nach einer neuen Flasche greifen. Unterm Tisch. Auch andere. Nordhäuser Doppelkorn. Schraubverschluss. Keine Hürde! Das Glas füllt sich. Indirekt nur. Es schwappt. Es schwappt über. Die Hürde wird, mit Abstrichen, gerade so genommen. Auch der Schluck. Bis zum Ende. Klar. Und weg! Fast.

Juan. Blutjung. Leicht hinkend aber gutaussehend. Aus Havanna. Setzt sich auf die andere Seite des langen Tisches. Dir gegenüber. Direkt neben Rosi. Wartet nicht ab. Fährt mit seinen langen Fingern, zart, durchs rotbraune Haar deiner Ex. Ihren Blicken entnimmst du Entsetzen. Zeit zu handeln. Sofort. Und ohne Aufschub. Ein Faustschlag auf die Tischplatte. Der hat gesessen! Klirren. Entsetzen, Staunen, Unbehagen. Du stehst auf. Hechtest um den Tisch. Auge um Auge. Zeit steht still. Wie eingefroren. Einen Flügelschlag lang. Ausholen: Juans Auge. Dann schlägt es sich fest. Dieses Spiel. Es scheuert sich heiß. Eigendynamik führt Regie. Gnadenlos. Ungefiltert. Unentwegt. Ins Gesicht. Ins Leere. Von einer Seite zur anderen. Und wieder zurück. Zwanzig Hände krallen sich, nach der Schockstarre, um fuchtelnde Arme. Erst nach Minuten sind sie keiner bedrohlichen Bewegung mehr fähig. Ein paar Schreie noch. Flüche. Verständlich. Für den Rivalen. Für alle. Sie verlieren sich akustisch, oben am Dach, wo die Tauben sitzen. Sie scheißen darauf. Die allgemeine Laune setzt langsam wieder ein. Durchatmen. Du schnorrst dir eine Zigarette. Gibst dir aber selber Feuer. Weiterhin. Der Schweiß verdunstet. Dein sichtbarer Hass genau so. Zeit verging derweil. Wie im Fluge. Die Feier neigt sich dem Ende zu.

Aufbruchstimmung. Leere Flaschen werden in Kästen verfrachtet, die vom Geld der Schwarzkasse bezahlt wurden. Pappteller in die Tonne. Vergesst nicht die Aschenbecher, Leute! So, Besen schwingen. Halb taumelnd. Alles geschieht mehr oder weniger schnell. Es ist schließlich Silvester. Man will doch zu seinen Lieben! Oder etwa nicht? Nach und nach geht es hoch. Zu den Spinden. Gemächlich. Schief. Über Umwege. Über Toiletten. Über Diskussionen. Auch du gehst. Glaubst, der erste zu sein. Die Zeit drückt. Immerhin hat sich Besuch angemeldet. Nach oben geht es also. Zielgerichtet. Die Schritte hallen nach. Auf geriffeltem Metall. In Gedanken bist du. Vielleicht bei deiner Frau. Bei deinen Kindern. Vielleicht bei Rosi. Vor ein paar Wochen erst gratulierte man dir. Vaterglück. Meine kleine Prinzessin! Denkst du. Jetzt. Oder auch nicht. Noch ein paar Meter. Die Umkleidekabine. Du streichst dir kurz über den klammen Scheitel. Biegst links um die Ecke. Der Spind. Es ist so stille hier. Ungewöhnlich, redest du dir ein. Kaum hörbar. Es knistert die Luft. So fühlt es sich gerade an. Nur von Ferne sind bekannte Stimmen auszumachen. Bald wird der Trubel hier oben angekommen sein, nimmst du an. Deine rechte Hand zieht gerade den Schlüsselbund aus der Hosentasche …

Tausend Sterne oder gar nur Schwärze? Überhaupt Empfindungen? Das ist aber sicher – dumpf, dein Aufschlag. Niedergestreckt liegst du. Regungslos. Wie tot. Und Blut. Aus allen undichten Stellen fließt es aus dir heraus. Auf dich herab. Um dich herum. Der Vorschlaghammer steht aufrecht. Juan, breitbeinig über dir triumphierend, der wachsenden Lache wegen. Er beugt sich nach unten. Tut irgendwas. Steht wieder auf. Rafael, sein Kumpan, zerrt dich mit Mühe und Ekel auf eine graue Decke. Zu zweit tragen sich dich weg. Geht schneller. Sie legen dich schließlich auf die Stahltreppe, die du erst vor ein paar Augenblicken hochgekommen bist. Mit dem Wunsch und der Annahme, bald daheim zu sein. Doch da wird nichts draus. Und niemand weiß es. Im Moment. Dein zertrümmerter Kopf, deine spannungslosen Arme und Beine werden in eine glaubhafte Position gebracht: Unfall. Ein tragischer Unfall! Warum denn immer soviel Hochprozentiges? Rafael steht bei den Schränken Schmiere. Die anderen müssten ja bald da sein. Los! Schnell! Juan beseitigt in großer Eile die Spuren. Spuren von Leben. Eben noch in anatomischer Ordnung. Wie es die Natur vorgegeben hat. Eben noch. Vor dem Schlag. Die Männer haben Angst, erwischt zu werden. Angst, in Verdacht zu geraten. Angst, wieder nach Kuba zu müssen. Angst vor dem Gefängnis. Sie wollen sich davonmachen. Vom Ort der Rache. Von dir und deinen glanzlosen, blutunterlaufenen Augen, die hinter den halb geschlossenen Lidern wohl das junge Leben passieren lassen müssen. 35 Jahre. Und an der Schwelle. Unbehelligt. Auf den Stufen. Nach unten.

Die Hände sind wieder sauber. An Juans linkem Handgelenk reflektiert eine goldene Quarzuhr äußerst schwach das Licht der Laternen, die die Straßen auf dem Gelände des Kombinats ausleuchten. Rafael kennt sie nicht. Die Armbanduhr. Oder doch? Sie machen sich aus dem Staub. Aus der Verantwortung.

Zeitgleich, zirka drei oder vier Kilometer Luftlinie entfernt, wartet deine Frau auf dich. Die Kinder spielen gerade mit der elektrischen Eisenbahn, die es zu Weihnachten gab. Sie sind schon den ganzen Tag aufgeregt. Können das Feuerwerk um Mitternacht kaum erwarten.

Nachbemerkung:
Dieser Text ist autobiografisch, geschrieben aus dem Material alter und aktueller Gespräche innerhalb der Familie, der eigenen Erinnerung und Imagination. Auch wenige Wortmeldungen ehemaliger Kollegen, die zum Teil Augenzeugen waren, flossen mit ins Schreiben ein. Das damals verordnete und mit finanziellen Zahlungen versehene Schweigen im Kollektiv wurde immerhin, wenn auch erst nach der politischen Wende, gebrochen. Das hier dargestellte Szenario, welches sich nicht eins zu eins so zugetragen haben mag, was aber dennoch für uns eine unfassbare Zäsur bedeutete, und für den Staat, der Beteiligten wegen, durchaus brisant war, sollte nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Denn, die Tatsache, dass ein Gastarbeiter bzw. Vertragsarbeiter im sozialistischen Bruderland einen Mord begangen hat, widersprach natürlich der Außendarstellung der DDR, insbesondere aber ihrer (von der Realität unterscheidbaren) Doktrin. Selbst der umgekehrte Fall hätte ähnliche Folgen mit sich gebracht: totschweigen, androhen, bespitzeln. Ein ehemaliger Stasi-IM, der jahrzehntelang lang „freundschaftlichen Umgang“ mit uns pflegte, verriet vor Jahren meiner Mutter, dass man zeitweise die Absicht hatte, sie aus dem Leben zu stoßen, mittels eines konstruierten Unfalls, da ihr Unmut darüber, die wahren Todesumstände ihres Mannes nicht erfahren zu haben, regelmäßig mit ihr durchging, nicht privat blieb. Sie erfasste natürlich das Verlogene bzw. das Ausweichen in den Gesichtern und auf den Zungen derjenigen, die sie vormals zu kennen glaubte. Ihr war indes natürlich auch klar, dass alle Mitwissenden unter Druck standen, in Gewissenskonflikte geworfen wurden.
Und was mich betrifft: der neunjährige Junge, der ich damals war, ist anteilig in mir verblieben.
Selbstverständlich bin ich mir darüber im Klaren, dass die in der DDR tätigen Kubaner, Vietnamesen, Mosambikaner vordergründig Opfer, nicht Täter waren, dass sie mit Stereotypen konfrontiert worden sind, Ausgrenzung und körperliche Gewalt erfahren haben, vor allem im außerbetrieblichen Kontext: Discotheken, Gaststätten, Feste, in Zügen, Bussen, Bahnen.

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© 2022 Marek Födisch
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