395 Strassen gibt es in der nordgriechischen Stadt Kavala. Dazu kommen 23 Kirchen und 13 Plätze. So ist es zumindest auf dem Stadtplan im Verzeichnis der Strassen, Kirchen und Plätze vermerkt. Von A wie Odos Averof in den Feldern D-E10 bis PSI wie Odos Psaron in Feld E 11. Beschriftet sind die Strassen mit blauen, rechteckigen Schildern. In der neusten Fassung sind oben links die griechische und oben rechts die Flagge der Europäischen Union aufgedruckt. Dazu kommen die Strassenbezeichnungen in griechischer und lateinischer Schrift. In grossen Lettern. Beispielsweise ΟΔΟΣ ΚΙΑΦΑΣ – KIAFAS STREET.
Bemerkenswert ist, dass jedes geteerte, gepflasterte oder sonst wie verkehrstüchtig gemachte Stück Boden eine Odos, eine Strasse ist. Die grössten wie eine Ethniki Odos (Autobahn), Haupt- und Nebenstrassen ausserhalb der Dörfer und Städte und in diesen die Boulevards, Einkaufsstrassen und Verbindungswege jeglicher Art. Auch die Odos Kiafas, ein kleiner Teil des Strassengewusels auf dem Souyiolou, wie das zweitälteste Quartier der Stadt heisst.
Die Bezeichnung Gasse oder gar Gässchen wäre zutreffender. Zumindest im ersten Teil. Um gegen das Ende hin strassenähnliche Züge anzunehmen. Den Anfang nimmt sie an der Odos 13 Septembriou, um nach 130 Schritten an der Odos Tsavela zu enden. Vorbei an fünf Strassenlaternen. Und man hat auch noch die Odos Papaflessa zu queren. Nebenbei zu den Strassenlaternen bemerkt. Diese erfüllen hier drei Funktionen. Neben der naheliegendsten, als Träger der Strassenlampen die Strassen zu beleuchten, braucht man sie auch gleich noch als Masten für die Stromleitungen. Aus vielen Richtungen hergezogen, bilden sich teils riesige Kabelknoten. Vielleicht ist es aber auch umgekehrt und man hat an die Masten der Stromleitungen gleich noch eine Strassenlaterne montiert. Drittens sind sie auch noch «Publikationsorgane». Ist jemand gestorben, werden die Todesanzeigen an dir meist noch hölzernen Stangen gepinnt.
Das Haus Kiafas 1 gehört Kyria Marika. Es ist eines der schöneren, mit einem einst kleinen, gepflegten Gärtchen davor. Heute ist es eine Betonfläche. Weg sind auch die schönen Blumen in den zu grossen Töpfen «umgebauten» Blechkanister, in denen vorher Feta-Käse und Olivenöl aufbewahrt wurde. Und sauber ist es. Zu verhindern, dass Hundemädchen Sofie gerade dort ihre «Geschäfte» verrichtet – insbesondere das kleine, das grosse kann man ja wegtragen – ist morgens beim Gassi-Gehen die erste Herausforderung. Kyria Maria – darum sprechen auch alle von der Frau Maria – ist eine Respekt heischende Person und seit einer halben Ewigkeit Witwe. Ihren Mann hat sie im 2. Weltkrieg oder im drauf folgenden, im Herbst 1949 endenden Bürgerkrieg verloren. Viele Jahre führte sie mit ihren drei Kindern am Meer unten eine Taverne. Eine der besseren.
Weniger erfreulich, aber wie vielerorts keine Ausnahme ist die verwilderte Bauparzelle gegenüber von Kiafas 1. Dieser schliesst sich bis zur Kreuzung mit Papaflessa ein «Häusertunnel» mit kahlen Wänden an. Die Häuser stehen so nahe beisammen, dass man zwischen den Balkonen den Himmel noch knapp zu erkennen vermag. Aber einen Vorteil hat es. Ist die eine Hausbewohnerin weg, kann die Nachbarin auch gleich deren Wäsche an der am Balkongeländer angebrachte Hänge abnehmen.
Über die Odos Papaflessa zu kommen ist absolut ungefährlich. Sie ist nämlich eine lange Treppe. Am Anfang und am Ende und wo sie sich mit der Kiafas kreuzt, mit den blauen Tafeln beschildert. 101 Tritte geht es hoch beziehungsweise runter. Diese waren einst nicht einfach grau, sondern an den Frontseiten bunt bemalt. Sechs rot, dann fünf blau, sechs gelb, drei braun … Eine Aktion von Gymnasiastinnen und Gymnasiasten gegen graue Städte. Heute kann man das verblasste Farbenspiel noch erahnen. Hinter dem aus allen Ritzen spriessenden Unkraut.
Ob grau oder farbig, die Treppe hochzusteigen, geht nicht erst im Sommer an die Puste. Wie man vornehmlich bei Frauen sieht. Mit mehreren kleineren und grösseren Plastiksäcklein in den Händen und nicht selten an einem Krückstock oder mit einer anderen Gehilfe. Verschnaufen kann man auf den unterschiedlich grossen Plattformen vor den Hauseingängen. Wenn man so steht, kann man darüber nachdenken: «Wie geht das wohl von sich, wenn da jemand umzieht?» Oder ist das einer der Gründe, das kaum noch jemand herzieht? Nur Festeingesessene bleiben und sagen: «Hier habe ich gelebt, hier sterbe ich auch.»
Das erste Haus ennet der Papaflessa gehören Fotini und ihrem Mann Sakis. Dass er von Beruf Maurer war, sieht man dem Bauwerk auch an. Nur die beiden Kanarienvögel in ihren kleinen Käfigen zwitschern etwas traurig. Weitere drei Liegenschaften schliessen sich an. Die erste gehörte der inzwischen verstorbenen und vor ihrem Wegzug hier «residierenden Dame» Kiria Athini. Obschon seit Jahrzehnten unbewohnt, macht das rosafarbene Haus noch immer einen ganz passablen Eindruck. Und seit kurzer Zeit haben sich sogar wieder Bewohner finden lassen. Ein ursprünglich von der gegenüber liegenden Insel Thassos stammender Grieche und eine Schweizerin aus Zürich.
Trister sieht es fünf Meter weiter aus. Ein Wrack von einem Gebäude hinter einem verrosteten Gartentor und einem verwilderten Garten lassen erahnen, dass hier einmal jemand gewohnt haben könnte. Wann das war, daran kann sich niemand mehr erinnern. Wenn sich auch nur noch Katzen auf dem Gelände herumtreiben, werden Prospekte der Grossverteiler Masoutis, Lidl, Kosmo Plus, Discount Markt und wie sie alle heissen, noch immer in das Gitter des Tores gesteckt. Von wo sie dann zu Boden fallen und verrotten. Vermutlich werden die Verteiler pro ausgetragenes Exemplar bezahlt.
Haus Nummer drei gehört wieder in die erfreulichere Kategorie. Auch wenn es schon in die Jahre gekommen ist. Hinter der hohen Mauer ist der Garten aber gepflegt. Dafür ist Dimitra besorgt. Auch drei Hunde wohnen hier. Diese «Rowdys» haben aber meist Stubenarrest oder geniessen zum Leidwesen von Sofie auf der Hinterseite des Hauses den Auslauf.
Auf der gegenüberliegenden Seite erstreckt sich vis-à-vis dieser Häuserreihe ein langes Gebäude. Zum grössten Teil auch schon seit Jahren unbewohnt. Wo es Fenster hätte, sind diese verbarrikadiert. Nur ganz vorne, gegenüber Sakis und Fotini ist ein kleiner Teil bewohnt. Neben dem Eingang ist das Küchenfenster mit blühenden Blumenstöcken geschmückt. In diesem Haus wohnt Ilias. Er hat das Downsyndrom. Dank einer guten medizinischen Versorgung ist er schon gegen 50 Jahre alt. Er wohnt hier zusammen mit der Familie seines Bruders oder der Schwester. Nur noch selten ist auf den Stufen der Eingangstüre der grosse schwarze Hund anzutreffen. Er hat seinen Standort vor den Elvetos (griechisch für Schweizer) verlegt. Einem der noch recht zahlreichen Läden im Quartier, wo es immer wieder etwas zu ergattern gibt. Eröffnet hat ihn ein griechischer «Schweiz-Fan» nach seiner Rückkehr in die Heimat.
In Grenzen halten sich an der Kiafas die in der Stadt teilweise sonst recht präsenten Wandmal- und –Schreibereien. Nur eine fällt an drei, vier Orten auf. In lateinischen Buchstaben hat jemand da und dort Forte aufgesprayt. Ein englischsprachiger Aufruf, Stärke zu zeigen? Oder ist es – als Schweizer kommt man auf die Idee – eine Empfehlung für den Fussballtrainer Uli Forte? Wer weiss, ob das etwas werden könnte? Der lokale Fussballklub A.O. Kavala hat in der zweitobersten Fussballliga eine durchzogene Saison erlebt.
Gegen das Ende der Kiafas, sie beginnt sich schon langsam zu senken, um dann recht steil in die ebenfalls abfallende Odos Tsavela zu münden, stehen noch einmal drei Häuser. In einem leben Barbara, ihr Mann und ihre beiden erwachsenen Söhne. Barbara ist eine vorzügliche Bäckerin. Immer, wenn es auf der Strasse köstlich riecht weiss man, es ist Sonntag, Barbara ist am Werk.
Wo neben dem Haus einst eine Bauruine stand, ist heute ein Parkplatz. Daneben dient heute auch eine kleine eingefriedete Hofstatt, in der früher noch angepflanzt wurde, auch diesem Zweck. Es ist ein Kampf gegen die Windmühlen. Man kann es machen wie man will. Wie viele Parkplätze es auch gibt, immer ist ein Auto mehr da.
Die Häuser 12 und 14 bilden den Abschluss der anderen Häuserzeile. In Kiafas 12 wohnt Aphroditi, eine Russlandheimkehrerin, nachdem die Vorfahrern um 1920 aus dem osmanischen Reich dorthin vertrieben beziehungsweise deportiert worden waren. Aphroditi ist auch hier nicht so glücklich. Wie viele nach der Finanzkrise, nur noch von der Hand in den Mund zu leben, ist ihre Sache nicht.
Haus Kiafas 14 ist ein Eckhaus. Es ist das Familienhaus von Claudia, in dem wir heute viel Zeit verbringen können. Im Erd- und Obergeschoss hat es je eine Wohnung, und zuoberst eine grosse Dachterrasse. Von der aus kann man, vorbei an Häuserlücken, sogar noch das Meer erkennen.
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© 2022 Hans Peter Flückiger (Text & Bild)
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