Sofies «Urahn»

Von Hans Peter Flückiger

Wir gehen Sofies «Urahn» besuchen, und nach einer knapp einstündigen Autofahrt stehen wir vor ihm. 50 Kilometer östlich von Thessaloniki: Vier Meter hoch, aus Marmor, auf einem noch einmal vier Meter hohen Sockel aus marmornen Kuben.

Natürlich handelt es sich beim erhabenen thronenden Tier – dessen hintere Pranke etwa gleich gross ist wie unser ganzer Vierbeiner – nicht um den ersten Bolonka aller Zeiten, sondern um den Löwen von Amphipolis. Ein Grabschmuck aus dem 4. Jahrhundert vor Christus. 2200 Jahre bevor im 18. Jahrhundert nach Christus in Frankreich die ersten bolonkaähnlichen Hunde Mode wurden. Mit etwas Phantasie ist eine gewisse Verwandtschaft zwischen Sofie und dem steinernen Giganten erkennbar. Nicht nur optisch, sondern auch, dass beide von politischen Querelen nicht verschont wurden.

Den Bolonka-Vorfahren setzte die Französische Revolution zu. Diese kleinen Knuddelbälge waren im 18. Jahrhundert bei den Damen des französischen Hofes sehr beliebt. Verschiedene dieser Vierbeiner landeten bei Besuchen als nette Mitbringsel am russischen Zarenhof. Selbst Katharina die Grosse soll Bolonka Franzuskas besessen haben.

Wie gut 100 Jahr vorher in Frankreich, bedeutete in Russland die (Oktober-)Revolution von 1917 das Aus für den dortigen Adel und auch dessen Nebenerscheinungen wie diese «unnützen» Hunde mussten um überleben kämpfen. Für was waren diese schon zu gebrauchen ausser zum Hätscheln? Für das war jetzt keine Zeit. Jetzt brauchte es Wach- und Arbeitstiere, schliesslich hatte man nicht weniger vor, als ein «Arbeiterparadies» zu schaffen.

Nach dem 2. Weltkrieg begann man in der Sowjetunion, die noch existierenden, weisshaarigen Bolonka Franzuska mit andern kleinen Hunderassen wie Chow-Chow und Malteser zu kreuzen. Zur Welt kamen Цветная болонка (Zwetnaja Bolonka), Bolonka Zwetnas, bunte Schosshündchen. Bolonka steht in der russischen Sprache für Schosshündchen, zwetnaja für bunt. In den 1970er-Jahren traten sie in der DDR einen ersten Sympathiezug an, welcher nach der Wende nach Westeuropa überschwappte.

Ohne Politik geht es auch beim Löwen von Amphipolis nicht. Man musste ja eine gewichtige Persönlichkeit gewesen sein, um ein solches Grabmal zu erhalten. Eine solche war Lameodon von Mytilene, dessen Grab er schmückte. Ein makedonischer Feldherr Alexanders des Grossen und dessen Statthalter in Syrien.

Irgendwann zerstört und verschüttet, wurden erste Fragmente während dem Balkankrieg von 1912/13 entdeckt und vor allem 1929 während der teilweisen Trockenlegung des Kerkini-Sees und weiteren Meliorationsarbeiten. Ein 1941 erschienene Buch «Der Löwe von Amphipolis» von Oscar Broneer dokumentiert seinen aufwändigen Wiederaufbau.

Dass der Löwe an einen makedonischen Feldherrn ehrt, freut viele Griechen. Es ist ein Beweis mehr, der zeigt, wo Mazedonien einzig und alleine liegt: Nirgendwo als in Griechenland.

Bei der Unabhängigkeit Jugoslawiens verselbständigten sich dessen Teilrepubliken. Die Teilrepublik Mazedonien firmierte international mit der «Behelfstitulierung» FYROM, Former Yugoslav Republic of Macedonia. Kein Dauerzustand. Aber es dauerte 30 Jahre, bis man sich einig wurde. Denn eines war für Griechenland klar. Mazedonien wird dieser neue Staat nie heissen.

Als Kompromiss einigte man sich 2019 auf Nordmazedonien. Dieser Entschied war im gleichen Jahr namentlich in Nordgriechenland ein Grund für die desaströsen Wahlresultate der «Koalition der Radikalen Linken» SYRIZA um den Ministerpräsidenten Alexis Tsipras. Egal ob im Mai bei den Europa-, Regional- und Lokalwahlen oder einige Wochen später bei den vorgezogenen Wahlen ins nationale Parlament.

In der Zwischenzeit haben sich die Gemüter – zumindest oberflächlich – beruhigt. Der Löwe von Amphipolis nimmt dies auf seinem Sockel thronend mit stoischer Gelassenheit zu Kenntnis. Was sind schon fünf, 30 oder auch 100 Jahre. Täglich tut er seine Pflicht als Publikumsmagnet und Anziehungspunkt für Touristen. Es herrscht ein reges Kommen und Gehen. Man steigt aus, schaut, staunt, und liest – oder entziffert in griechischer oder englischer Sprache – welche Bewandtnis es mit diesem Monument hat. Manche haben es aber auch eilig. Innert 30 Sekunden ist der Spuk vorüber: Am Strassenrand anhalten, beim Auto die Fenster öffnen, knips, knips, knips, und weg ist man wieder.

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© 2022 Hans Peter Flückiger (Text & Bild)
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