Von Lena Kelm
Plötzlich stand ich davor. Ich staunte und freute mich. Jemand hatte sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen: eine Bücherbox. Ein Beweis dafür, auf dem guten Alten basiert das Neue. Über die Bücher freute ich mich wie auf ein Treffen mit meinen besten Freunden. Begegnungen mit Freunden sind für mich – nach japanischer Weisheit – Momente des Glücks, die mein Leben begleiten.
Meiner Mutter verdanke ich die ersten Begegnungen, Berührungen mit Büchern, die unzähligen glücklichen Stunden mit ihnen in der Kindheit. Auch nach sechzig Jahren erinnere ich mich an den Buchumschlag und die Geschichte des dünnen Kinderbuches, aus dem sie mir vorlas. Sogar der Name des Jungen, Sascha, prägte sich mir ein, so sehr erschütterte mich sein Verhalten. Er katapultierte aus seinem Versteck heraus mit einer selbstgebastelten Schleuder einen Stein in die Einkaufstasche einer alten Frau. Erschrocken und ängstlich schaut sie sich um. Die Moral von der Geschichte: alte Menschen soll man mit Respekt behandeln, auf keinen Fall wie dieser Sascha.
Wahre Stunden des Glücks erlebte ich, als ich selbst zu lesen begann. Bücher nahmen mich mit auf Reisen in unerreichbare Länder. Nach Afrika, wo schwarze Menschen erniedrigt wurden, nach Frankreich, wo ich mit den schwarzen Menschen und dem Grafen von Monte Christo litt und froh war, wenn es ihnen gut ging. In die Abenteuer von Tom Sawyer und Winnetou vertieft, vergaß ich die Realität. Ich liebte und litt mit dem jungen Werther, Effi Briest und Solveig, verliebte mich beim Lesen wie Anna Karenina, vergoss bittere Tränen, ging mit ihr den ausweglosen Weg zum Zug. Und ich schwor, mich treibt keine Liebe in den Selbstmord. Mit Tränen verabschiedete ich mich mit etwa fünfzehn Jahren von den Drei Musketieren. Ich wünschte mir eine Fortsetzung. Mein kleiner Neffe fragte mich: „Wieso weinst du, es ist doch nur ein Buch?“ Die Tiefe dieser für mich unvergesslichen Begegnung konnte er noch nicht verstehen.
Ich träumte vom Prinzen, der mich mit einem roten Segelschiff abholt wie bei Alexander Grins Purpursegel. Der kleine Prinz ist noch heute mein Wegbegleiter. Ein Zitat aus diesem Buch verheißt einen Glücksmoment. Schicksale heldenhafter Menschen ermutigten mich, kleine Schicksalsschläge zu ertragen. So die Lebensgeschichte des Piloten Alexei Maressjew, der im II. Weltkrieg beide Beine verlor, aber nicht seinen Mut. Er lernte nicht nur, auf Prothesen zu gehen, sondern damit zu fliegen. Dieser Mensch gab nicht auf. Von ihm lernte ich, für das Glück zu kämpfen. Das Leid des im Koffer versteckten Jungen in Buchenwald ging mir nahe, ich war überglücklich mit den befreiten Menschen, die die Grausamkeiten des Konzentrationslagers überlebten. Mich bewegte die Geschichte vom geteilten Himmel über dem Land, von dem ich träumte. Spannend fand ich die Serie „Biographien berühmter Persönlichkeiten“, aus denen ich viele Informationen und Hintergründe über meine Lieblingsautoren wie Dickens, Hugo, Sand, Heine, Dostojewski erhielt. Was ich aus ihren Werken erfuhr, erfährt man nur, wenn man liest. Welche Gedanken, welche Geschichten! Einmal sah ich Karl den Großen vor mir, ein anderes Mal den Kilimandscharo, dann David Copperfield. Dickens Werke las ich mehrmals. Sie waren wie für mich allein geschrieben. Ich traf auf eine erstaunliche Vielfalt an Charakteren, die bei Dickens lebendig wurden, ich denke nur an Die Pickwickier oder Oliver Twist.
Im jugendlichen Alter entdeckte ich die Harmonie des Klangs von Versen. Ich versank im hypnotischen Rhythmus, gleich einem Gesang. Ich begann sogar zu reimen, doch meine Versuche scheiterten kläglich. Umso mehr schöpfte ich aus der Poesie anderer. Meine Seele reagiert wie ein Kammerton auf die Gedichte von Mascha Kaléko, Theodor Fontane, Erich Kästner, so wie früher auf die Balladen von Schiller, Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen“. Immer neue Autoren, Begegnungen kommen dazu, Glücksmomente, die sich wie Offenbarungen anfühlen, Erkundungen und Weisheiten, die meine Gefühlswelt anregen, die ich nie mehr missen möchte. Also greife ich in die Bücherbox, eine Erfindung der modernen Welt, und freue mich auf eine neue Begegnung.
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© 2022 Lena Kelm
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