Documenta und ich

Von Sandra Engelbrecht

  1. August 2022:

Espresso in der Tasse, duftet aromatisch herb in der Nase, süsslich am Gaumen. Mann mit Teller in der Hand zur Frau: „ich hohl mir ein Ei.“ Sie antwortet nicht.

Zähne putzen. Blick aus dem Fenster: Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe. Meeresrauschen, der Wind bläst durch das Blattwerk der Eiche? Ulme? Linde?

Ist Kunst tatsächlich ein Entwurf für die Fantasie, um diese zu beflügeln?

Warten auf die Strassenbahn. Taube pickt Brotkrümel vom Boden. Rocksaum und Haare flattern im Wind.

Alle tragen Masken in der Strassenbahn. Ich nicht. Habe keine dabei. „Dort wo ich wohne, müssen wir keine tragen.“ sage ich zur Frau. Sie nickt und schenkt mir eine. Fühle mich dazugehörig.

Auf dem Friedrichsplatz. Der Himmel drückt. Meine Stimmung drückt. Sitze auf einer roten Parkbank. Frau im Rollstuhl fragt nach Geld, Mann mit Bierdose in der Hand fragt nach Zigaretten, die Aborigines im Zelt demonstrieren. Trostlos.

Ein Mädchen schlägt ein Rad, ein Junge fährt schlängelnd auf einem Laufrad, zahnloses Lachen. Zuversicht.

Museum-Friedrichsplatz -> wir sind people -> Stoff, Wolle, Blech, Holz -> überall Material -> oben, unten, hinten, vorne -> weil –> we are Menschen. Frage: Erfüllen Waren unsere wahren Bedürfnisse?

Durch einen Tunnel in eine messerscharfe, rohe Welt. Dröhnend, reisserisch, zerstörerisch. Der Beat stampft in meinen Knochen. Macht über mich. Macht mich müde. Mache Pause. Trinke Brause.

Zurück zum Start. Erneut abtauchen. Sehe zwischen Dreck, Krieg, Unterdrückung einen Lichtstrahl, der sich durch den Beton fräst. Menschen die wandeln. Menschen, die ihre Zukunft in die Hände nehmen. Nicht einsam. Gemeinsam.

Ich sehe: eine Frau isst ein Sandwich und liest in der Documenta-Broschüre, ein Mann fotografiert eine posierende Frau vor der Kompost-Toilette, zwei Männer telefonieren, zwei Kinder löffeln begierig ein Eis, eine Frau trinkt aus einer Feldflasche und reicht sie an ihre Tochter weiter, eine Frau stellt einen umgefallenen Baumstumpf-Hocker auf.

Ich gehe: auf Schultischen spazieren.
Ich höre: eine Harfe und ein Saxophon, Hand in Hand.
Ich denke: Documenta ist ein scharfes Abbild der gegenwärtigen, weltlichen Situation. Lachend und weinend. Miteinander.

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© 2022 Sandra Engelbrecht
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