Etwas in uns will raus

Von Michael Wiedorn

Sind es Wespenschwärme, die im Körperinneren meiner Mutter herumschwirren? Durch die Herzkammern, durch die Eingeweide, durch die Hirnwindungen. Unter ihrer Gesichtshaut sehe ich mehrere sich ständig hin und her bewegende Blasen und Beulen. Sie sind eingesperrt und suchen verzweifelt einen Ausweg. Im stillen Zimmer hört man nur kaum hörbares Wespensummen. Meine Mutter schwitzt vor Schmerz und Angst. Sie sitzt reglos da und gibt keinen Laut von sich. Sie hält es für angemessen die Qual in sich hineinzufressen. Ihr Körper müsste sich in unzählige Wunden und Schwellungen auflösen. Nur ihre Augen sind weit aufgerissen. Sie kommt mir wie ein trauriges, geduldiges Tier vor.
Ein gedemütigter, hässlicher Hund mit schlapp herabhängenden Ohren und nass stinkendem Fell folgt mir auf Schritt und Tritt. Er läuft mir zwischen den Beinen, dass ich immer wieder stolpere und er versucht mich immer wieder abzuschlecken. Das Tier braucht dringend Hilfe und möchte mir mit seiner schlabbernden Zunge über das Gesicht lecken. Lecken und Schlecken lassen nährendes Leben verschwinden.
Ich laufe eine Straße in unmittelbarer Nachbarschaft meines Geburtshauses entlang. Der Himmel ist von Rauchwolken geschwärzt. Es muss etwas Furchtbares mit dem Haus meiner Kindheit geschehen sein. Der Hund läuft vor mir her, als würde er mich wohin führen. Er wendet immer wieder den Kopf zu mir zurück und blickt dabei flehentlich zu mir hoch. Es wäre mir peinlich, wenn ein zufällig Vorbeikommender denken würde, ich und das Tier würden zusammengehören. Plötzlich ergreift irgendetwas meinen Führer in seinen Eingeweiden und er bleibt stehen. Sein Körper verkrampft sich und lässt einen ganzen Strom von Blut und Eiter herausstürzen. Mein Begleiter entlässt etwas unendlich Ekelerregendes in die Außenwelt, das von Giftigem wimmelt und nahezu glitzert. Das Entsetzliche des Lebendigen. Die Beine des Hundes brechen ein. Er wird gleich verenden. Er liegt im Sterben. Nur ich hätte ihm helfen können. Seine verlöschenden Augen blicken mich so bittend an. Ich bleibe steif und kalt stehen. Die Berührung mit dem Sterbenden und seinen Ausscheidungen wäre mein sicherer Tod.
Ich ziehe in eine andere Wohnung. Eine alte, grauhaarige Säuferin mit sanftem Mondgesicht und dem faden Geruch nach miefender Unterwäsche, die vorher hier lebte, schaut neugierig bei mir vorbei. Ein roter Ausschlag frisst ihre Lippen und die rechte Backe. Plötzlich packt es mich und ich gebe ihr unvermittelt einen Kuss. Mir wird klar, was ich eben getan habe und ich schäme mich zu Tode. Sie starrt mich befremdet an und verschwindet schleunigst aus meiner Wohnung.

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© 2022 Michael Wiedorn
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