Von Johannes Morschl
Es sei ja geradezu erschreckend, welche durchgeknallten Egomanen, grauen herrschsüchtigen Apparatschiks, größenwahnsinnigen Witzfiguren, geistig und moralisch verkommenen Milliardäre, und die dazugehörigen, von der Macht profitierenden Cliquen die Menschheit beherrschen, dachte Lotterschreck. Spontan stimmte er die Internationale an, wobei er den ersten Satz leicht veränderte: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Kuschen zwingt…“ Man kann eigentlich nur noch Anarchist werden, dachte er, aber kein Bombenattentäter, das bringt überhaupt nichts, das bringt nur die Bevölkerung gegen einen auf und bietet nur einen Vorwand für verschärfte Repressionsmaßnahmen des Staates. Ihm fiel wieder seine letzte Freundin Wanda mit ihrer betörenden Kontra-Alt-Stimme ein. Was hätte sie zu solchen Gedanken gesagt? Vielleicht: „Alter Mann, du bist ein hoffnungsloser Träumer. Die Menschen sind eindeutig eine Fehlentwicklung der Evolution. Schau dich doch nur selbst an, ganz abgesehen davon, dass der Unsinn, den du schreibst, eine Fehlentwicklung der Literatur ist. Kafka, den du so sehr verehrst, der konnte wenigstens gut schreiben, auch wenn er in gewisser Weise ein Psycho-Fall war.“
Lotterschreck fiel dazu ein, was Saul Friedländer in seiner Kafka-Biografie im Ersten Teil, Kapitel drei Liebe, Sex und Phantasien, über Kafkas Verhältnis zu Frauen geschrieben hat. Kafka hatte zwar so einige Beziehungen mit Frauen, so war er zum Beispiel mit Julie Wohryzek vorübergehend verlobt, und mit Felice Bauer war schon die Heirat angedacht, zu der es jedoch nicht kam, aber gleichzeitig hatte er Angst und Abscheu vor Sex mit Frauen. Nur einmal schien er diese Angst und Abscheu kurzzeitig verloren zu haben, in der Liebesaffäre mit der in Wien lebenden, verheirateten tschechischen Journalistin Milena Jesenská. Um sich von seinen sexuellen Spannungen zu befreien, ging er in Bordelle oder mit einer Prostituierten in ein Hotel. Was da genau ablief, wissen wir natürlich nicht. Im November 1913 notierte er in seinem Tagebuch: „Ich will nur die dicken älteren, mit veralteten aber gewissermaßen durch verschiedene Behänge üppigen Kleidern.“ Auf ein sexuelles Verhältnis mit einem Mann, was möglicherweise eher seinen Neigungen entsprochen hätte, – Friedländer weist in seiner Kafka-Biografie auf homoerotische Fantasien Kafkas hin -, hätte er sich jedoch nie und nimmer eingelassen. Ohne sein verqueres Verhältnis zur Sexualität wäre er höchstwahrscheinlich ein anderer Kafka geworden, und nicht der berühmte schräge Kafka mit seiner abgründigen Fantasie, den wir kennen und schätzen, dachte Lotterschreck.
Lotterschreck kratzte sich bedächtig am Kopf. Ihm fiel ein Spruch von Adorno aus Minima Moralia ein: „Kafka: der Solipsist ohne ipse.“ Dieser Spruch kam ihm unsinnig vor. Definiert man Solipsismus als reine Bezogenheit auf sich selbst, so muss es ein wie auch immer geartetes Selbst geben, sonst kann es auch keinen Solipsismus geben. Dann ging er ins Badezimmer und schaute sich in den Spiegel. Er versuchte, eine äußere Ähnlichkeit mit Kafka bei sich zu entdecken, konnte aber keine finden. Er war darüber ein wenig enttäuscht. Um diese Enttäuschung zu überspielen, drängte es ihn, etwas Bedeutungsschwangeres von sich zu geben: „In uns selbst verschlossen, halten wir auf ein Offenes zu, das wir jedoch nie erreichen. Wir bleiben in uns gefangen, bis wir wie das Licht einer Kerze erlöschen, – für immer.“ Es hätte gerade noch gefehlt, dass er am Schluss Amen gesagt hätte. Er dachte, wenn Wanda diesen Spruch gehört hätte, hätte sie ihm womöglich den Vogel gezeigt. Er musste wieder einmal feststellen, wie sehr sie ihm fehlte. Angst oder Abscheu vor Sex mit ihr hatte er ja nun wirklich nicht gehabt, ganz im Gegenteil, er war geradezu süchtig nach Sex mit ihr gewesen. Umgekehrt war es aber nicht so. Sie hatte ihn nach dem ersten halben Jahr des fast zweijährigen Zusammenlebens mit ihm in seiner Wohnung immer seltener an sich herangelassen.
Draußen begann es schon wieder wie aus Eimern zu schütten. Auch ein Donnergrollen war zu hören. Lotterschreck bekam Kopfschmerzen. Er spürte auf einmal seine Einsamkeit und Verlorenheit auf dieser Welt. Er dachte, er sei in eine falsche Welt geraten, in einen falschen Körper, in ein falsches Leben. Er stellte sich vor, dass es irgendwo in den unendlichen Weiten des Weltalls einen Planeten geben würde, der von riesigen Käfern bewohnt wäre, sozusagen von lauter Gregor Samsas, die aber von keinen menschlichen Wesen bedroht wären, da es dort keine solche Wesen geben würde. Es würde dort keine Väter geben, die Äpfel auf einen werfen und einen tödlich verletzen könnten, so wie Gregor Samsa von seinem Vater mit Äpfeln beworfen wurde, von denen einer in seinem Käferrücken steckenblieb. Und er würde auf diesem von riesigen Käfern bewohnten Planeten eine neue Wanda finden, die ebenfalls ein riesiger Käfer wäre. „Nein, das ist lächerlich“, dachte er. Außerdem hätte diese neue Wanda als Käfer nicht mehr diese wunderbare Kontra-Alt-Stimme! Oder hat man schon jemals einen Käfer mit einer Kontra-Alt-Stimme getroffen?
„So, jetzt reicht es aber!“, sagte sich Lotterschreck. „Du solltest mal wieder an die frische Luft gehen, um dein Hirn zu durchlüften, sonst wirst du noch verrückt von deinem Gedankenwirrwarr!“ Draußen hatte es zu regnen aufgehört, die graue Wolkendecke riss auf und Sonnenstrahlen brachen durch. Lotterschreck zog sich seine alten, ausgetretenen Sandalen an und ging in den großen Park in der Nähe seines Wohnviertels. Auf dem Weg zum Park und dann auch im Park fiel ihm wieder einmal auf, wie viele Leute in Berlin Hunde hatten. Er fragte sich, ob es in Berlin mehr Hunde als Kinder geben würde. Die Hunde taten ihm leid und er war heilfroh, nicht als Hund auf diese Welt gekommen zu sein. Die Hunde taten ihm vor allem deshalb leid, weil sie auf Gedeih und Verderb ihren Herrchen oder Frauchen ausgeliefert waren. Er dachte, als Kind wäre man zwar auch auf Gedeih und Verderb den Launen der Eltern ausgeliefert, aber da hätte man vielleicht Verbündete wie Geschwister oder Freundinnen und Freunde unter anderen Kindern. Er dachte dabei weniger an seinen um etliche Jahre älteren Bruder, der inzwischen schon gestorben war. Dem war er als Kind nur auf die Nerven gegangen. Vielmehr dachte er an gleichaltrige Kinder aus der damaligen Nachbarschaft, mit denen er so manchen Streich ausgeheckt hatte, vor allem mit seinem damals besten Freund Franzi.
Früher, als er noch Museen besuchte, hatte er einmal in einer Ausstellung über den Wiener Aktionismus aus den 1960er-Jahren ein Foto gesehen, auf dem man die Performance-Künstlerin Valie Export sieht, wie sie ihren damaligen Lebensgefährten Peter Weibel, – dieser ebenfalls Künstler, unter anderem einer der Hauptakteure jener einen gewaltigen öffentlichen Skandal ausgelöst habenden Veranstaltung „Kunst und Revolution“ am 7. Juni 1968 in einem Hörsaal der Universität Wien -, wie einen Hund an der Leine durch die dicht belebte Kärntner Straße in Wien führt, er auf allen Vieren, aber ohne Beißkorb, wie es damals eigentlich Vorschrift war, wenn man mit einem Hund in der Öffentlichkeit unterwegs war. Lotterschreck hatte auch schon versucht, nicht nur wie ein Käfer, sondern auch wie ein Hund herumzulaufen, allerdings nicht in der Öffentlichkeit, sondern nur in seiner Wohnung. Dies hatte er schon gemacht, bevor er noch mit Wanda zusammen war, und später hatte er es auch in ihrer Anwesenheit gemacht. Das war natürlich ein vollkommen anderes Gefühl, wenn er nicht wie ein Käfer, sondern wie ein Hund in der Wohnung herumlief. Auch hatte er versucht, wie ein Hund zu bellen. Ein objektiver Beobachter hätte vermutlich festgestellt, dass Lotterschreck ein ausgesprochenes Talent zum Bellen von Hunden hatte. Hätte man nur sein Bellen gehört, ihn aber nicht gesehen, so hätte man denken können, es handelte sich um das Bellen eines echten Hundes.
Als er noch mit Wanda zusammenlebte, hatte es sie amüsiert, wenn er in der Wohnung wie ein Hund auf allen Vieren herumlief und ab und zu bellte. Einmal, als sie schon ziemlich beschwipst war, hatte sie sich auf seinen Rücken gesetzt, ihm einen Klaps auf den Po gegeben und gerufen: „Hopp, Pferdchen, hopp und Galopp!“ Er hatte sofort entschieden Einspruch erhoben und ihr gesagt, dass er kein Pferd, sondern ein Hund sei. So etwas müsste sie doch merken! Pferde bellen doch nicht, sondern wiehern! Oder hätte sie schon jemals ein bellendes Pferd getroffen? Sie entgegnete flapsig: „Dass du auf den Hund gekommen bist, brauchst mir erst gar nicht extra zu erklären, das ist ohnehin offensichtlich.“ Und das hatte sie wieder mit ihrer so verwirrend erotischen Kontra-Alt-Stimme gesagt, so dass er, wenn er einen Hundeschwanz gehabt hätte, sofort heftigst zu wedeln begonnen hätte.
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