Von Johannes Morschl
Bin urlaubsreif, brauche eine Auszeit von der Welt. Mir sind die Frauen über den Kopf gewachsen, bin da viel zu blauäugig herangegangen. Die Welt ist ja für jeden anders. Brauche eine Auszeit speziell von meiner Welt, würde mich am liebsten vorübergehend in Luft auflösen. Man bräuchte ein Schaltgerät, mit dem man sich ein- und abschalten kann. Im abgeschalteten Zustand wären alle Probleme wie weggewischt. Die ewigen Geldprobleme wären wie weggewischt. Und auch die Probleme mit den Frauen, an deren Zustandekommen man nicht ganz unschuldig ist, wären wie weggewischt.
Es begann schon so bedrohlich. Am Montag um vier Uhr nachmittags herum klingelte es an meiner Wohnungstür. Ich erwartete aber niemanden. Mein einziger erwarteter Besuch, meine primäre Bettgefährtin Lisa war schon da und ruhte sich in meinem Schlafzimmer aus. Mich traf fast der Schlag, als ich draußen vor der Tür meine unangekündigt gekommene andere, nicht minder primäre Bettgefährtin Ulla erblickte, eine wegen schlechter Erfahrungen mit Männern äußerst misstrauische Person. Würde mein Doppelspiel mit zwei primären Bettgefährtinnen, die nichts voneinander wussten, jetzt auffliegen? Ich sagte zu Ulla: „Du, mir geht es heute nicht so gut. Ich liege schon den ganzen Tag im Bett. Vielleicht könntest du ein anderes Mal kommen, wenn es mir wieder besser geht.“ „Ich liege schon den ganzen Tag im Bett“, hätte ich lieber nicht sagen sollen, denn Ulla schöpfte sofort Verdacht. Sie drängte sich an mir vorbei in die Wohnung, ging schnurstracks zu meinem Schlafzimmer, riss die Schlafzimmertür auf und rief angesichts der in meinem Bett liegenden Lisa: „Du falscher Hund! Treibst es noch mit einer anderen!“ Ich hätte am liebsten geantwortet: „Entschuldigen Sie bitte, aber wer sind Sie? Da muss eine Verwechslung vorliegen. Außerdem müssen Sie wissen, dass ich leider zurzeit nicht da bin, ich bin vorübergehend abgeschaltet.“ Aber dann wäre Ulla vor Wut geplatzt, sie hatte ohnehin etwas Explosives an sich. Sie betrat das Schlafzimmer und knallte die Schlafzimmertür hinter sich zu. „Jetzt kommt es zum Kampf der Amazonen!“, dachte ich. Und schon vermeinte ich, anschwellenden Amazonen-Schlachtgesang zu hören. Mir schien es ratsam zu sein, die Wohnung zu verlassen, denn die Wut der beiden Amazonen könnte sich schnell gegen mich richten. Ich lief wie betäubt in den Straßen meines Wohnviertels herum. Mir kam alles unwirklich vor. Ich dachte: „Vielleicht besetzen sie meine Wohnung und lassen mich nicht mehr hinein, ganz abgesehen davon, dass ich es wahrscheinlich für immer verspielt habe, ihre Muschis jemals wieder zu Gesicht zu bekommen.“ Ich verehrte ihre Muschis, jede übte eine ganz eigene Anziehungskraft auf mich aus. Für viele Männer ist ja Muschi gleich Muschi, Hauptsache, sie können ihren Pimmel hineinstecken. Dabei nehmen sie gar nicht die Vielfalt im Aussehen und Wesen von Muschis wahr, diese ganze wunderbare, geheimnisvolle Welt der Muschis.
Mit meinem Muschi-Wunderland war es jedenfalls zunächst einmal vorbei. Wunderte mich ohnehin, wie ich zu zwei Frauen wie Lisa und Ulla gekommen war. Konnte nur eine Fügung des Schicksals gewesen sein, hat mich allerdings auch in eine verhängnisvolle Situation gebracht. Ja, ich sah mich auf einmal als Opfer des Schicksals an, welches laut antiker Mythologie in den Händen von Schicksalsgöttinnen liegt, wie zum Beispiel von Ananke, die für das Verhängnis zuständig ist. Bei mir war eindeutig Ananke am Werk. Sie hat bewirkt, dass Lisa und Ulla voneinander erfuhren. Jetzt würde ich wieder ganz allein im Bett schlafen müssen, würde mir eine neue Frau suchen müssen, wobei ich gestehen muss, dass eine neue Frau bereits am Horizont schimmerte, ich hatte es aber noch nicht gewagt, sie anzubaggern. Hatte nur ein intensives Gespräch mit ihr über die vielen sexuell Verklemmten geführt, die frei herumlaufen, obwohl man denken würde, die Leute wären heute aufgeklärter und lockerer als früher, sind es aber nicht, tun nur so, ist nur ein Vorgaukeln von Lockerheit, sind in Wirklichkeit genauso verstopft, verkopft und verzopft wie früher, ja es wird eher wieder schlimmer. Man hat ja so seine Erfahrungen gemacht, um so etwas einschätzen zu können. Hat an Sexorgien teilgenommen, als man noch ein junger Spund war. Hatte ja damals geradezu zum guten Ton gehört, an Sexorgien teilzunehmen. War im Grunde genommen nichts anderes als eine nackte Selbsterfahrungsgruppe. Man wollte Abwechslung ins Liebesleben bringen, damit es nicht in fester Zweierbeziehung erschlaffte. Heute sind Orgien leider aus der Mode gekommen. O tempora, o mores! Was für Zeiten, was für Sitten!, hatten schon die alten Römer angesichts des Sittenverfalls im alten Rom gestöhnt. Und es zeugt meines Erachtens eindeutig von Sittenverfall, dass Orgien wieder aus der Mode gekommen sind. Das ist ein kultureller Rückschritt.
Nach über zwei Stunden beschloss ich, es zu wagen, wieder in meine Wohnung zurückzukehren. Leise sperrte ich die Wohnungstür auf und horchte in die Wohnung hinein. Es war still, es schien niemand mehr da zu sein. Ich ging ins Schlafzimmer, dachte ein wüstes Durcheinander vorzufinden, womöglich sogar eine weibliche Leiche, doch was sahen meine entzündeten Augen? Das Bett war gemacht, und zwar viel ordentlicher, als ich es jemals gekonnt hätte. Ein leichter Geruch von Moschus hing in der Luft. Auf dem Bett lag ein Zettel, auf dem geschrieben stand: „Danke, dass du uns diese Begegnung ermöglicht hast! Kaum erblickten wir einander, funkte es zwischen uns. In unseren Blicken zuckten Blitze der Lust und des Begehrens auf, und dann entlud sich diese hoch erotische Spannung zwischen uns. Es war unglaublich schön! Wir danken dir von ganzem Herzen! Ohne dein falsches Spiel wären wir uns womöglich nie begegnet und nähergekommen. Sollten wir eines Tages heiraten, laden wir dich zu unserer Hochzeitsfeier ein. Bis dahin auf Nimmerwiedersehen, Lisa und Ulla.“
Ich stöhnte auf: „O tempora, o mores!“, und sagte mir, jetzt stehste janz alleene da. Solltest dich schnellstens um jene am Horizont schimmernde Frau bemühen, mit der du bereits ein intensives Gespräch über sexuelle Verklemmungen in Vergangenheit und Gegenwart geführt hast. Sie hieß übrigens Suse. Wäre aber ratsam, das Thema zu wechseln und statt über sexuelle Verklemmungen über bevorzugte sexuelle Praktiken zu reden, um abwägen zu können, ob und inwieweit es Berührungspunkte gäbe und was man bei der anderen Person berücksichtigen müsste. Man könnte auch zur Einstimmung gemeinsam das Kamasutra durchblättern. Ich besitze eine schöne großformatige Ausgabe des Kamasutras mit durchgängig farbigen Bildern. Man könnte sich daraus Anregungen holen, auch wenn manches wie eine Stellung aussieht, für die man nicht gelenkig genug ist.
Kurz entschlossen rief ich Suse an, – wir hatten bei unserem ersten Treffen unsere Handynummern ausgetauscht -, und lud sie zu mir nach Hause ein. Sie kam am Freitag am frühen Nachmittag. Bei einer Flasche Rotwein lenkte ich das Gespräch auf sexuelle Vorlieben. Dann blätterten wir das Kamasutra durch, das ich vorsorglich auf den Tisch gelegt hatte. Suse zeigte auf ein Bild und fragte: „Wollen wir diese Stellung ausprobieren?“ Ich stimmte ihrem Vorschlag voreilig zu, bereute es aber sogleich wieder, da ich diese Stellung nie und nimmer hinbekommen hätte. Da hätte ich ja ein Akrobat sein müssen. Suse fragte mich nach meinem Schlafzimmer, nahm mich dann an der Hand und zog mich sanft, aber bestimmt dorthin. Drinnen zog sie mich und danach sich selbst nackt aus, schubste mich aufs Bett und sagte zu mir, sie wolle diese eine Stellung aus dem Kamasutra mit mir ausprobieren. Ich sagte zu ihr: „Wollen wir nicht lieber mit einem Vorspiel beginnen, wie es sich für einen ordentlichen Sex gehört?“ Sie sagte, sie brauche kein Vorspiel, sie wolle jetzt sofort diese eine Stellung aus dem Kamasutra mit mir ausprobieren.
Da blieb mir nichts mehr anderes übrig, als einen Schwächeanfall vorzutäuschen. Ich mimte den sterbenden Schwan. Als Suse besorgt an mir rüttelte, murmelte ich mit einer Stimme, so als würde ich mich im Grenzbereich zwischen Leben und Tod befinden: „Mir ist plötzlich ganz schwindlig geworden. Brauche eine kurze Auszeit.“ Sie hatte aber „Eiszeit“ verstanden. Ich korrigierte röchelnd: „Auszeit, nicht Eiszeit.“ Sie schien beruhigt zu sein, denn Eiszeiten können ewig lange dauern. Sie schmiegte sich an mich und wollte auf das Ende meiner Auszeit warten. Ich schwächelte aber solange, bis sie neben mir eingeschlafen war. Dann stieg ich vorsichtig aus dem Bett, um sie nicht zu wecken, nahm das Kamasutra und versteckte es. Ich hoffte, Suse würde sich nach dem Aufwachen nicht mehr genau an diese eine komplizierte Stellung erinnern können. Außerdem könnte ich sie verwirren, indem ich behauptete, diese Stellung anders in Erinnerung zu haben. Sollte sie nach dem Kamasutra fragen, um wegen dieser Stellung nochmal nachzugucken, würde ich sagen, ich hätte es wieder zu den anderen Büchern gestellt, wüsste aber nicht mehr genau, wohin. Ich würde dann so tun, als ob ich es suchte, würde es aber leider unter den Unmengen von Büchern, die ich besitze, nicht mehr finden können. Dies wäre eine durchaus glaubhafte Ausrede, denn in meiner Wohnung sieht es fast so aus wie in einem Antiquariat. In meinem Schlafzimmer sind schon ein paarmal Bücher aus dem hohen Regal neben dem Bett auf meine jeweilige Bettgefährtin und mich gefallen. In dieses Regal hatte ich das Kamasutra natürlich nicht gestellt, sonst hätte es, wenn das Bett bebte, herunterfallen können, und dann hätte Suse ganz sicher nochmal nachgeguckt, wie diese eine komplizierte Stellung korrekt auszuführen sei, die ich nie und nimmer hinbekommen hätte.
Ach ja, fast hätte ich das Ende dieser Geschichte zu erzählen vergessen. Als Suse aus ihrem Schlaf erwachte, war es schon so spät, dass sie nach Hause zu ihrem Mann und ihren beiden Kindern gehen musste. Das Vorhandensein von einem Ehemann und Kindern hatte sie mir bis dahin verschwiegen. Als ich sie ein paar Tage später per Handy anrief, sagte sie zu mir: „Bitte ruf mich nicht mehr an. Ich denke, wir passen nicht zueinander.“ Die Lehre, die ich daraus zog, war, nie wieder das Kamasutra mit einer potentiellen Geliebten durchzublättern.
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