Eulalia

Von Johannes Morschl

Es geschah an einem Montag im August. Gegen 14 Uhr wurde Eulalia, meine Riesenschlange und einzige Mitbewohnerin, die auf dem Teppichboden im Wohnzimmer lag, unruhig. Dies war ein Anzeichen dafür, dass sie wieder Hunger bekam. Da ich zu wenig Geld hatte, um immer Lebendfutter für sie kaufen zu können, ging ich mit ihr manchmal in einen großen Park, der nicht weit von meiner Wohnung entfernt war. Dort gab es allerlei Lebendfutter, wie Mäuse, Ratten, Eichhörnchen, Vögel und frei herumlaufende Hunde. Da wurde Eulalia immer satt. Das warme Regenwetter draußen war ideal, um mit ihr ins Freie zu gehen. Sie liebte die Kombination von Feuchtigkeit und Wärme. Außerdem war bei dem Regenwetter kaum jemand unterwegs. Also gingen beziehungsweise krochen wir auf die Straße. Träge dahin schlängelnd folgten mir Eulalias pralle acht Meter auf dem klitschnassen Bürgersteig. Die wenigen Fußgänger, die uns begegneten, wechselten bei Eulalias Anblick sofort die Straßenseite. Nur eine alte Dame, die am Stock ging, blieb stehen und schrie: „Wie heißt denn der Hund?“ Ich antwortete: „Das ist kein Hund, das ist eine Schlange.“ Die alte Dame, die offensichtlich schwerhörig und fast blind war, schrie: „Was haben Sie gesagt? Das ist ein Hund und keine Schlange? Das sehe ich doch! Ich bin doch nicht blind! Wie heißt denn der Hund?“ Da bremste neben uns ein kleines Auto in einer Regenpfütze am Straßenrand. Wasser spritzte auf Eulalia, die alte Dame und mich. Dies hätte das kleine Auto lieber nicht machen sollen. Man durfte Eulalia nicht erschrecken, sie fühlte sich dann bedroht und griff an. So geschah es auch in diesem Fall. Blitzschnell umschlang sie das kleine Auto und versuchte es zu zerdrücken, was ihr aber nur zum Teil gelang. Zum Glück blieb der Fahrer unversehrt. Er drohte mit der Faust, konnte uns aber nichts anhaben, da sich die Autotüren nicht mehr öffnen ließen. Die alte Dame lachte und schrie: „Was der Hund alles kann! So einen Hund könnte ich auch gut gebrauchen, wenn ich über die Straße gehe und die Autos mich fast überfahren und die Fahrer mich noch dazu beschimpfen!“ Sie streichelte über Eulalias Kopf und schrie: „Der arme Hund! Der hat ja keine Haare mehr!“

„Schnell weg von hier“, dachte ich, „bevor die Polizei und wer weiß noch alles kommt!“ In der Eile fiel mir nichts Besseres ein, als mit Eulalia in das Kaufhaus an der nächsten Straßenecke zu fliehen. Dort angekommen, öffnete ich die große Eingangstür und wartete, bis sich Eulalia durchgeschlängelt hatte. Die sich in der Nähe befindenden Kunden und Leute vom Kaufhauspersonal starrten sie entsetzt an und flohen in Panik durch den Hinterausgang ins Freie. Eulalia schien diese Situation unangenehm zu sein. Sie verkroch sich sofort zwischen den Regalen der Parfümerie-Abteilung, die sich gleich hinter dem Eingang befand. Nur anderthalb Meter von ihr ragten noch aus der Parfümerie-Abteilung hervor. Da trat der Kaufhausleiter auf, ein geschniegelter Typ mit Anzug und Krawatte, und schnauzte mich an: „Wenn Sie nicht sofort mit diesem Monster verschwinden, rufe ich die Polizei!“ Ich hätte dem gerne Folge geleistet, doch Eulalia war von den Düften in der Parfümerie-Abteilung derart betäubt, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Mir blieb also nichts anderes übrig als zu warten, bis wieder Leben in sie kam. Ich versuchte dies dem Kaufhausleiter zu erklären, doch der alarmierte unbarmherzig die Polizei.

Nicht allzu lange danach rückten behelmte Polizisten in Kampfanzügen an. Der Einsatzleiter verlangte die Personalausweise von Eulalia und mir. Ich zeigte ihm meinen Ausweis, doch Eulalia besaß natürlich keinen. Ich fragte ihn, ob er schon jemals eine Schlange mit einem Personalausweis getroffen hätte. „Aha!“, sagte er barsch. „Die Schlange kann sich nicht ausweisen! Lebt wohl illegal hier! Dann stecken wir sie in den Abschiebeknast! Ratzfatz ist sie wieder im Amazonasland bei den wilden Amazonen oder von wo sie sonst herkommt!“ Ich entgegnete: „Die Amazonen, jenes Volk kriegerischer Frauen, das uns aus Sagen der alten Griechen bekannt ist, lebten in Kleinasien und nicht am Amazonas. Und außerdem habe ich Eulalia ganz legal erworben.“ „Aha, Sie Klugscheißer!“, erwiderte der Einsatzleiter. „Eulalia ist der Vorname dieses ekligen Viehs! Was ist das für ein bescheuerter Name? So heißen nur Hottentotten!“ „So heißen zwei christliche Heilige aus Spanien, die heilige Eulalia von Barcelona und die heilige Eulalia von Mérida“, stellte ich richtig. Der Einsatzleiter schnauzte mich an: „Das ist mir scheißegal! Ich verhafte die Schlange wegen Verdachts auf illegalen Aufenthalt in Deutschland, und Sie verhafte ich gleich mit wegen vorsätzlicher Behinderung der Staatsgewalt!“

Doch bevor es dazu kam, betrat die alte Dame mit Stock das Kaufhaus. „Da ist ja wieder der Hund!“, rief sie begeistert, als sie beim Herumgehen über die anderthalb Meter von Eulalia stolperte, die aus der Parfümerie-Abteilung ragten. Erst danach nahm sie die behelmten Polizisten in Kampfanzügen wahr und schrie: „Die Marsmenschen sind ja auch da! Ich habe es schon immer gewusst: Eines Tages werden sie bei uns landen!“ Der Einsatzleiter fühlte sich provoziert und drohte: „Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie Beamte beleidigen!“ Die schwerhörige alte Dame schrie: „Was haben Sie gesagt? Sie beleidigen Beamte? Ist das bei euch am Mars so üblich?“ Da kamen zwei Schuljungs ins Kaufhaus, liefen an uns vorbei, ohne uns groß zu beachten, und tollten zwischen den Regalen herum. Als sie die reglos daliegende Eulalia in der Parfümerie-Abteilung entdeckten, krähte der eine aufgeregt zum anderen: „Ey, Alter! Das ist ’ne echte Monsterschlange! Das muss ’ne Anakonda sein!“ „Aha!“, sagte der Einsatzleiter, der dies gehört hatte. „Anakonda heißt die Schlange mit Nachnamen! Eulalia Anakonda! Na bitte, da wäre ihre Identität geklärt. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, aus welchem Kanakenland sie kommt.“ Sein Rassismus nervte mich tierisch. Ich sagte zu ihm: „Sie sollten mal Ihr Hirn entnazifizieren!“ „Aha!“, reagierte er erzürnt. „Auch noch dazu frech werden! Aber der Tag wird kommen, an dem wir mit euch Chaoten einfürallemal aufräumen!“ „Das verbitte ich mir!“, schrie die alte Dame, die wieder alles völlig falsch verstanden hatte. „Ich lass euch Chaoten nicht alle auf einmal bei mir aufräumen! Geht lieber zu euch auf den Mars Staubsaugen, der hat es dringend nötig!“

Der Lärm weckte Eulalia aus ihrer Betäubung. Sie kroch aus der Parfümerie-Abteilung hervor und bewegte sich langsam auf den Einsatzleiter zu. Mir schwante Schlimmes. Der Einsatzleiter, der sich von Eulalia bedroht fühlte, zog seine Dienstwaffe und zielte auf ihren Kopf. Da ging die alte Dame dazwischen, schwang drohend ihren Stock und schrie den Einsatzleiter an: „Den armen Hund erschießen! Das täte euch Marsmenschen so passen! Aber nur über meine Leiche!“ Der Einsatzleiter schob sie grob zur Seite und schoss, verfehlte jedoch knapp Eulalias Kopf. Ehe er dazu kam, nochmal zu schießen, schnellte Eulalia vor, umschlang ihn, erdrückte ihn und würgte ihn in ihren Schlangenleib hinein. Angesichts dieses schaurigen Geschehens ergriffen die anderen Polizisten panikartig die Flucht. Auch der Kaufhausleiter räumte schleunigst das Feld, und auch die beiden Schuljungs hatten das Muffensausen bekommen und versteckten sich in einer Umkleidekabine. Nur die alte Dame lief nicht weg. Sie schrie: „Das ist aber fein! Das schmeckt dem Hund! Jetzt sagen Sie mir doch endlich, wie heißt denn der Hund?“ Da ich es für aussichtslos hielt, ihr vermitteln zu können, dass Eulalia kein Hund sei, antwortete ich schreiend: „Der Hund heißt Eulalia!“ „Das ist aber ein schöner Name!“, schrie sie zurück und wandte sich Eulalia zu: „Ein braver Hund bist du, Lalila! Hast die bösen Marsmenschen vertrieben!“

Mir schien es ratsam zu sein, so schnell als möglich mit Eulalia zu verduften. Ich bedankte mich bei der alten Dame für ihr beherztes Eintreten für Eulalia und verließ das Kaufhaus durch den Hinterausgang, gefolgt von Eulalia, die nun eine große Ausbuchtung in ihrem schlauchförmigen Körper hatte. Wir gingen bzw. krochen durch eine Nebenstraße nach Hause, um nicht an dem von Eulalia attackierten kleinen Auto vorbei zu müssen, wo wahrscheinlich einiges los war. Inzwischen hatte es zu schütten begonnen, was mir nur recht war. Wir begegneten keinem einzigen Menschen und erreichten ohne weitere Zwischenfälle unsere Wohnung. Eulalia machte es sich auf dem Teppichboden im Wohnzimmer bequem und schlief sofort ein. Mir war natürlich bewusst, dass der Vorfall mit dem Einsatzleiter schlimme Folgen für Eulalia und mich haben würde. Eine Stunde später rückte ein Sondereinsatzkommando der Polizei an und tötete Eulalia mit einem gezielten Kopfschuss. Dann schnitt man sie auf und holte den Einsatzleiter heraus, um ihn ordnungsgemäß bestatten zu können. Ich wurde verhaftet und warte jetzt in einer Gefängniszelle, in der ich das alles aufgeschrieben habe, auf meinen Prozess.

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© 2022 Johannes Morschl
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