Alle oder alle?

Von Hans Peter Flückiger

Wenn das so einfach wäre. Protokoll eines Wortwechsels

«Basta! Es ist und bleibt so. Die letzten Zweifel sind ausgeräumt. Wir sind alle im selben Boot.»
«Wirklich?»
«Unwiderruflich.»
«Wie kommen Sie jetzt auf so etwas?»
«Das ist doch offensichtlich.»
«Ein Unfug ist das. Was ist denn mit uns beiden?»
«Was sollte denn mit uns beiden sein?»
«Bei allem Respekt. Wir sind doch nicht alle.»
«Das hat auch niemand gesagt.»
«Also bitte. Unermüdlich behaupten Sie, wir sind alle im selben Boot.»
«Genau. Dazu stehe ich auch.»
«Wollen Sie mich veräppeln?»
«Was soll das jetzt?»
«Pah! Sie und Ihre offensichtlich falschen Behauptungen.»
«Was heisst denn da offensichtlich falsch?»
«Wider besseres Wissen wiederholen Sie gebetsmühlenartig, wir sind alle im selben Boot.»
«Ich bitte Sie. Natürlich sind wir nicht alle, gehören aber dazu.»
«Zu wem?»
«Zu denen im Boot.»
«In dem neben uns noch wer ist?»
«Ach! Der Hinterste und die Letzte natürlich! Von Hinz und Kunz bis Krethi und Plethi. Jeder und jede ohne Ausnahme.»
«Wow – und das im selben einen Boot?»
«Ja, begreifen sie es langsam?»
«Ehrlich gesagt nein. Das muss ja ein riesiges Boot sein.»
«Wollen oder können sie es nicht verstehen?»
«Ach hören Sie doch auf … Ich kann es mir einfach nur nicht erklären. Das Beste ist, sie zeigen mir doch einfach das Boot.»
«Sorry, das geht nun aber wirklich nicht.»
«Nicht? Wieso? Ist es gesunken?»
«Nein, es ist nicht gesunken.»
«Es wäre eine plausible Erklärung.»
«Eine Erklärung? Für was?»
«Na, dafür dass Sie es mir nicht zeigen können. Dafür muss es doch Gründe geben. Es muss doch etwas geschehen sein?»
«Ich bitte sie. Über so etwas macht man keine Witze. Die Situation ist zu ernst. Das kann man drehen und wenden wie man will.»
«Ich weiss, ich weiss. Wir sind alle im selben Boot.»
«Wunderbar! Sie haben es doch verstanden.»
«Das würde ich nicht sagen. Ich versuche nur, es mir vorzustellen.»
«Prima! Phantasie ist immer gut, um Komplexes begreifen zu lernen.»
«Phantasie! Das ist doch unerträglich. Wir drehen uns hoffnungslos im Kreis. Sie behaupten die ganze Zeit, dass wir alle im selben Boot sind.»
«Ich wiederhole mich gerne, wenn es hilft: Ja, so ist es und ich stehe dazu.»
«Mir reicht es. Machen wir Nägel mit Köpfen! Ich will jetzt das Boot sehen!»
«Wenn es Sie auch nervt. Das geht nicht. Weil es sich gar nicht um ein richtiges Boot handelt.»
«Was? Ich fasse es nicht. Kein richtiges Boot? Dann wird es wohl ein „unrichtiges“ sein?»
«Schluss jetzt! „Unrichtige“ Boote. Was für ein Schmarren. Das Boot, von dem ich rede, gibt es nur in der Vorstellung. Es ist aber – sagen wir besser – ein echtes Boot.»
«Ach so! Ein regelrechtes Boot, wie es im Buche steht, aber in keinem Hafen liegt.»
«Gott sei Dank. Endlich scheinen Sie es doch zu kapieren.»
«Ich hoffe es. Ich gehe davon aus, dass das Boot erst geplant ist, es sich also um einen Entwurf handelt.»
«Nein, es handelt sich um keinen Entwurf. Und das Boot wird es so auch nie geben! Was aber nichts daran ändert, dass meine These richtig ist.»
«Wie soll denn das möglich sein?
«Wir sind alle im selben Boot ist eine Allegorie.»
« Al-le-go-rie – jetzt verstehe ich. Es handelt sich um ein fiktives, extraterrestrisches Raumschiff. Die Allegorie, welche mit Hyperspeed durch die Galaxien braust. In einer vierten, fünften oder x-ten Dimension, zu denen wir dreidimensionalen Wesen natürlich keinen Zugang haben. Das ist eine echt starke Geschichte.»
«Ach was Raumschiff! Eine Allegorie ist ein Sinnbild, ein Symbol, ein Gleichnis.»
«Schade. Zu welchem Zweck dient denn diese – eh – Boots-Allegorie?»
«Sie soll uns die Ernsthaftigkeit der Lage vor Augen zu führen.»
«Welche Lage?»
«Alle im selben Boot zu sein. Weil es sonst einmal – vermutlich schon bald – zu spät sein wird.»
«Zu spät? Für was kann es – möglicherweise schon bald – zu spät sein.»
«Für die Einsicht, nicht alles getan zu haben, um unser „gemeinsames Boot“ instand zu halten.»
«Unser „gemeinsames Boot“? Das ist ja schön, ich bin Miteigentümer eines, wenn auch nur fiktiven Bootes.»
«Das ist doch nur eine Beschreibung und gehört zum Szenario der Allegorie. Das „Boot“ gehört uns allen, ist uns allen anvertraut.»
«Ach, und deshalb sind auch alle alle?»
«Wer behauptet den so etwas. Überhaupt niemand ist alle.»
«Aber im selben Boot?»
«Ja. Wir. Gemeinsam.»
«Alle im selben Boot»
«Genau, aber nicht alle.»

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© 2022, Hans Peter Flückiger
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