Von Günther Pilarz
Normalerweise müsste ich schon längst schlafen und süß träumen. Abgedeckt in meiner holzverzierten Liegestatt ruhend, durchfluten mich viele Inputs aus der Seele. Samt Legionen von Buchstaben, welche in den Fokus rücken wollen. Da geht die Post ab – wie im Wilden Westen. Dann bist du plötzlich da und es dreht sich alles um dich.
Meine rechte Hand krallt sich den neben dem irreparablen Wählscheibentelefon liegenden Buntstift. Derweil klatschen Heerscharen von Regentropfen rhythmisch ans Fensterglas, während du durch meinen Kopf spukst. Nicht negativ. Positiv. Wunderbar. Wie jener Wohlgeruch von geräucherter Wurst. Wieso ich dir das erzähle? Weil du der Erste gewesen bist, welcher mich Nachwuchsstar auf eine Leberkäsesemmel samt süßem Senf eingeladen hat. Oft sind wir mit diversen S-Bahnen irgendwohin gefahren, um unsere Geschmacksknospen damit zu beeindrucken. Phänomenal. Epochal. Gut.
Momentan schwirrt das Alphabet wieder im Großhirn herum, weshalb es ein paar Sekunden auf Pause schaltet. Dann sortiert jenes den Buchstabenterror unter dem fliehenden Haar. Irritiert kämmt die linke Hand im restlichen Urwald herum, indes mein Ego versucht, voll cool zu wirken. Wecke ich deine Erinnerungen? Wahrscheinlich …
Kannst du dich entsinnen, welch exquisite Duftwolken euer altes Backrohr seinerzeit entlassen hat? Von wohlschmeckenden Keksen, welche gleich mit Kaffee oder Milch verspeist worden sind. Da ist mir stets das Wasser im Mund zusammengelaufen. Nun tanzt meine Zunge über die Lippen. Besagtes Zünglein hat Ausgang? Pfui! Nein, ich bin kein alberner Bengel mehr. Der Farbstift zwischen den Fingern unterstreicht dies sofort. Ob meine Gedanken gerne durch die Zeiten reisen? Gute Frage, gewiss. Meistens dann, wenn dein erfundenes Sprichwort ›Im Mund schmeckt alles bunt‹ mitspielt. Pscht, eigentlich sollte ich schon längst schnarchen. Sapperlot aber auch!
Der von mir geschwungene Zeichenstift malt gegenwärtig am Bettrahmen herum, während mein Blick durch die jenseitig beleuchtete Parkanlage bummelt. Dahin, wo ich einst als Dreikäsehoch Sandfeuer gespielt habe. Du hast mir dort hinterherspioniert, um zu entdecken, wie eine Handvoll Sand in die Luft geworfen worden ist und lauter Grünschnäbel Feuer geschrien haben. Da hat dich doch jene dumme Pute mit ihrer schrillen Stimme angefaucht, keine kleinen Kinder zu beobachten. Diese ist dann von dir meisterhaft verulkt worden. Du seist Staatspolizist und in einer geheimen Mission unterwegs! Daraufhin ist die gefoppte Schnepfe nur mehr strammgestanden. Chapeau!
›Wie du wieder sprichst‹, wie oft habe ich diese Moralpredigt einst gehört? Nein, aus deinem Mund ist so was nie auf mich eingeprasselt. Können Tiernamen denn Schimpfwörter sein? An jedem Jahrmarkt gibt es doch auch Hau-den-Lukas als Attraktion. Hat sich denn je irgendein Lukas darüber aufgeregt oder beschwert?
Meine linke Backe meldet Alarm, als ich am Buntstift kaue. Dieser Termin heute Nachmittag trägt Schuld daran. Eine jener obligatorischen Kontrollen. Wo? Bei unserem berüchtigten Zahnklempner. Nein, Freude ist keine aufgekommen. Kannst du dich noch entsinnen, wie ich dir die Dritten mit Sekundenkleber zusammengeleimt habe? Worauf deine bessere Hälfte erbost gemeint hat, du sollst nicht so nuscheln. Darauf sind von dir nur mehr russische Phrasen gekommen. Ach ja, anno dazumal hat jener kyrillische Sprachkurs im TV als Straßenfeger gegolten. Da hast auch du die originellen Sprechblasen nachgequatscht. Aber das absolute Nonplusultra in besagter Sendung ist diese hübsche Wuchtbrumme gewesen. Es ist mir keineswegs verborgen geblieben, wie du jener Bildschirmtante heimlich zugezwinkert hast. Schlawiner!
›Ich soll nicht so reden‹, wie oft hat diese Schelte unsere Wohnung geflutet? ›Ach, lass ihn‹ im Schlepptau danach. Doch Verrat ist nie mein Ding gewesen. Speziell dann, wenn deine großen Augen bei jenem Sowjet-Kauderwelsch auf der Mattscheibe besonders stark geleuchtet haben. Da passt ja nur Schlawiner. Nicht wahr, du Fuchs?
Die Grünanlage gegenüber gerät wieder in mein Visier. Besagter Buntstift hat das Kommando, so scheint es jedenfalls. Er deutet genau an jenen Platz, wo wir beide beim Riesenschach gewesen sind. Ich habe damals nicht verstanden, wie man das spielt. Dabei hast du manchem Gegner laut zugerufen: ›Deinen König wird bald die Schwäche umgarnen‹. Oder auch: ›Sie werden gleich aus allen Wolken fallen‹. Noch öfter aber – matt. Wenn wir zwei in jener Outdoor-Arena erschienen sind, bin ich mit dir gemeinsam im Rampenlicht gestanden. Kleiner Mann ganz groß! Nugat-Pralinen hat es auch stets gegeben. Welch seltene Leckerbissen.
Jener Regen dürfte abgezogen sein, der lästige Wind ebenso. Mein blauer Stift kratzt mich gerade hinter dem Ohr. Bestimmt nicht, weil ich verlegen bin. Oder doch? Nein! Tja, erinnerst du dich an das scharfe Magazin, wie es deine Chefin genannt hat? Jenes kolorierte Potpourri voller Bilder, Sprechblasen und mit den Bikinigirls am farbenfrohen Cover. Eine an sich vollkommen harmlose Zeitung, aber dieses Titelseitenfoto hat mich magisch angezogen. Du hast mir das Heft immer wieder sanft weggenommen und dabei etwas von meinen leuchtenden Augäpfeln erzählt – im Flüsterton. Analog einem sogenannten Glupschaugen-Syndrom oder so etwas in der Art.
Eigentlich bist du mein Märchenonkel, mein Geschichtenerzähler gewesen. Ich könnte gegenwärtig nichts mehr davon nacherzählen. Unser Ritual davor ist jedoch haften geblieben. Jetzt muss der Vorhang aber gefallen sein. Oder besagter Groschen. Nun sollte es sich dir jedenfalls erschließen, wer ich bin. Erkennst du mich, geliebter Opa?
Einstweilen der Mond weiterzieht und das Fensterglas in Dunkelheit hüllt, sind meine Gedanken neuerlich dran. Im Oberstübchen entdecke ich unsere mannigfachen Expeditionen und Landpartien wieder. Mit Proviant bewaffnet auf geheimer Kommandotour. Oma hat mich später ausgefragt, ob die Glimmstängel wieder geglüht haben – in deinen Fingern. Ist sie dann böse geworden? Und wenn motorisierte Käfer mit Hutträgern an uns vorbeigeflitzt sind, bist du stets ausgeflippt. Hihi! Leider hat man dich viel zu zeitig ins Paradies beordert. Um zig Jahre zu früh – für mich Fünfjährigen.
Müdigkeit macht sich breit und Gähnen kommt auf. Jenes scheint Zug um Zug auf der Überholspur zu sein, Zeit für den Matratzen-Horch-Dienst. Sei gedrückt Opa! Auf bald! Beseelt von tiefem Schlaf, übersiedele ich meinen kobaltblauen Buntstift zurück an seinen Platz und schalte die Nachttischlampe aus. Da läutet das kaputte Telefon …
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© 2022 Günther Pilarz
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