Dahinter

Von Michael Wiedorn

Im Dunklen sehe ich verschwommen die Köpfe einer Frau und eines Mannes leuchten. Die strohblonde Frau schreit wie Schlachtvieh. Er dringt gewaltsam in ihr Inneres ein. Der Mann lässt sie bluten.
Ein mir fremder Nackter – war es der Vergewaltiger? – liegt reglos auf dem Rücken. Er erhebt seinen Oberkörper, stützt seinen rechten Arm auf eine Mauer und schwingt seinen ganzen Körper durch das aufgebrochene Mauerloch auf meine Seite. Er ist splitternackt. Die Fingernägel an seinen völlig verkrampften Händen sind ungewöhnlich lang. Seine Fingernägel sind bösartige Krallen. Er ist jetzt auf meiner Seite.
Die Mauern in dem Raum in dem ich im Bett liege, sind dunkelbraun und verschlucken jedes Licht. Zu meinen Füßen sitzt die Vergewaltigte auf einem Stuhl. Sie hat aus Hass gegen den Mann den Verstand verloren. Sie läuft nicht hysterisch herum und brüllt, sondern sie sitzt reglos auf einem Stuhl und die ins Innere eingesperrte Kraft wird sie zerbersten lassen. Ihre Augen verschwinden unter den Lidern. Ich habe Angst, dass sie an mir Rache nehmen wird. Sie wird mich bluten lassen. Schnell und hastig mache ich mit meinen Beinen Schwimmbewegungen um meine Unschuld zu beweisen. Können Fische Frauen vergewaltigen? Hoffentlich erkennt sie nicht meine Männlichkeit.
Ich stehe aufrecht vor dem Loch in der Mauer. Hinter dem bröckelnden Gemäuer steht ein alter, verhärmter Transvestit mit blassem, eingefallenem Gesicht und verwelkten Lippen. Mir ist klar, dass es die Vergewaltigte ist. Wir lieben uns. Wir vereinigen uns und sind der Andere.
Sie sitzt auf einem Stuhl. Sie hat auf den Beinen und den Schenkeln erdbeerartige Pusteln. Sie eitern und glänzen feucht. Sie erklärt, dass sie todkrank ist.
Schlagartig merke ich die Anwesenheit von mehreren, wildfremden Leuten. Was starren sie mich an? Eine schwarzhaarige, junge Frau aus der Gruppe flüstert mir etwas ins Ohr. Ich verstehe kein Wort. Ich fühle mich ausgesprochen dumm.

28.XII.1996

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