Von Marek Födisch
Mit der linken Schulter an einem toten Baum. Nach oben blicken, da, wie schwarze Blutgefäße!, das Geäst. Darin verfangen: ein Drache, vom letzten Jahr, rot-blau-gelb. Ungezählte Meter darüber ein dichtes Wolkengemenge, das von rechts nach links in steigender Geschwindigkeit vorüberzieht, unterschiedlich schattiert, dessen schmutziges Weiß gerade noch die Oberhand behalten darf. Das konturenreiche und bauschige Gebilde wähnt sich vor Kondensstreifen sicher, und es lassen sich dort, wie so oft, bekannte Gesichter ausfindig machen: einmal waren es meine Großeltern im Profil, ein andermal sogar Leonardo da Vinci. Heute bildet sich der Fantasie eine Katze mit sehr spitzen Ohren ab. Ich verweile weiter am Stamm, dessen Rinde sich in Etappen vom ausgetrockneten Holz löst. Am Boden hält Moos etwas Feuchtigkeit bereit. Für umsonst. Daten und Kürzel verliebter Paare fallen mir nicht ins Gesicht. Dafür aber erste Tropfen. Ich gehe, in die nahezu menschenleere Allee abbiegend. Es ist wohl ein wichtiges Fußballspiel zugange? Die Glocken schlugen jedenfalls vor wenigen Minuten neunmal. Der Abglanz des Tages bündelt sich in dünnen und dezent aufflackernden Fäden am links des Weges befindlichen Kirchturm und sinkt in sich zusammen. Es dunkelt. Ich atme bewusst, synchron zu meinen eher gemächlichen Schritten, und begreife dabei die Kostbarkeit des Augenblicks, mit mir allein sein zu dürfen. Ich schließe kurz die Augen, ein Wetterumschwung deutet sich in der Nase an: Nässe. Zurückgehen? Nein. Ein älterer Mann um die sechzig, mit hochgezogenem Sommermantelkragen und lichtem Haar, taucht plötzlich aus einer Seitenstraße vor mir auf, ein altes Fahrrad schiebend, an das ein tiefliegender, dunkelgrün vergitterter Handwagen, voll mit alten Zeitungen und Prospekten, befestigt ist. Der mild und etwas müde dreinschauende, bebrillte Herr kommt mir bekannt vor, unsere Blicke kreuzen sich bestimmt nicht zum ersten Mal, höre ich mich denken, und seine Züge haben sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit Friedrich Dürrenmatt. Ob auch er schreibt?, sinniere ich kurz. Vermutlich fehlt ihm zumindest tagsüber die Zeit dafür, denn es sieht fast so aus, als ob er gezwungen sei, die ganze Woche über Papier und Pappe zu sammeln, in Vollzeit. Wie verschieden doch die Lebensbahnen sind, obwohl: was weiß ich denn, wie es um mich stehen wird, wenn jenes Alter, später, in meinen Knochen steckt. Noch täuschen die Wände der Existenz Stabilität vor, der Boden unter den Füßen hält irgendwie stand. Ich glaube dennoch, dass die Deckschicht über dem Abgrund relativ dünn ist. Für alle. Der nachfolgende Gedanke an Eierschalen wird jäh vom lauten Signal eines rasenden Rettungswagens vertrieben. Ein paar Sekunden später lärmt wieder einer auf. Ich stelle klipp und klar fest: nicht vertrieben, eher verstärkt. Liegt es an mir, so eine Beurteilung getroffen zu haben? Oder kommt diese vielleicht von außen, vom mittlerweile gereizten Wind, der jetzt das bislang eher schmutzige Weiß den neunmal finsteren, aufgedunsenen Händen preisgibt, die sich über mir abbilden? Im Hintergrund: eine im Anmarsch befindliche dunkelgraue Wand, die ebenso eine Deckschicht ist, wenngleich aber gar keine dünne, im Gegenteil, die, ähnlich einer Arme und Beine ausstreckenden riesengroßen Wärterin, das einkehrende Mondlicht vor zu romantischen Blicken abzuschirmen weiß.
Schritte, immer wieder Schritte, die feuchten Gehwegplatten im Visier. Platzregen setzt nach Minuten plötzlich ein, in zahllosen Perlenfäden verliert sich der vormals gezeichnete Himmel, der sich jeglichen Schmucks entledigt. Mir fällt dabei das Zerreißen der Kleider im Alten Testament ein. Stoppe aber prompt weitere Überlegungen. Bin fast zurück. In der Ferne mache ich das Mehrfamilienhaus aus und komme schließlich im Spurt, mit verändertem Atem, an der Haustür an. Der Schlüssel ist schnell zur Hand. Im Treppenhaus ist es still, im Wohnzimmer bestimmt auch. Es bewahrheitet sich. Der Schlaf ist bereits in die Zimmer gezogen. Jacke und Jeans breite ich über die Stuhllehnen aus. Ich wünsche, dass der Regen sein kräftiges Trommeln beibehält, wofür das schmale blecherne Dach über der Einfahrt zur Tiefgarage nützlich ist. Denn durch Geräusche dieser Art lässt es sich gut einschlafen. In trockenen Nächten wird Ravi Shankar bevorzugt, sein Live-Album von 1972, auf Youtube. Ganz ohne Laut funktioniert es nämlich nicht, da, wetterunabhängig, das lustige oder zornige Treiben im direkt angrenzenden Park bis zum Morgen andauert. Das Überdecken der Lärmquelle als Bewältigungsstrategie sozusagen. Allenfalls frostige, spiegelglatte Flächen lassen die Nacht Nacht sein. Und der Drache an den Blutgefäßen wird bestimmt einmal abstürzen.
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© 2022 Marek Födisch
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