Von Michael Wiedorn
Vorübergehend wohne ich bei einem Bekannten. Nur für wenige Minuten verlasse ich die Wohnung. Als ich zurückkehre, steht ein Fremder in der Wohnungstüre und stellt mir seinen wuchtigen Körper als feindlichen Panzer entgegen. Er ist in meinem Alter und sein aschblondes Haar ist kurz geschoren. Die Räume in der Wohnung sind alle hell erleuchtet, obwohl draußen die Sonne scheint. Plötzlich schlägt er mir eine Axt auf den Kopf. Spüre ich keinen Schmerz?
Widerstandslos verlasse ich das Haus und laufe ratlos durch die Straßen. Ich gerate auf einen Marktplatz unter dem hohen Rathausturm und plötzlich wird mir klar, dass der obere Teil des Schädels losgelöst ist. Er sitzt mir wie ein Deckel mit exakt geradem Rand auf dem geöffneten Kopfinneren. Eine Zeit lang laufe ich mit dem nur notdürftig verschlossenen Kopf weiter. Vorbeigehende Passanten starren mir penetrant auf Stirn und Scheitel und tuscheln erschrocken mit einander. Aller mögliche Dreck kann in die Hirnmassen geraten. Mir wird klar, dass mein weiteres Leben schwierig sein wird. Mein Leben ist zerstört. Jemand erwacht im Krankenhaus und ihm wird klar, dass er ab dem Halswirbel querschnittsgelähmt ist. Das freiliegende Fleisch im offenen Schädel.
Ich betrete eine Kneipe. Ich kenne den Wirt und frage ihn, wieviel eine Operation kosten würde. Er überhört meine Frage und legt mir Prospekte für Erholungsreisen nach Südtirol vor. Ich blättere ratlos in den Heften und habe keinerlei Orientierung. Einige Blätter sind herausgerissen. Die Seiten sind völlig durcheinander nummeriert. Mir wird klar, dass der Wirt nicht an eine Heilung meines Hirnes glaubt. Ich liebäugele dann zu dem Arzt im Rathausturm zu gehen. War ich nicht bei ihm vor kurzem wegen etwas Anderem?
29.VI.1994
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