Ein altes grünes Männlein

Von Franz Niemand

Ein später Nachmittag Anfang September. Ein altes grünes Männlein geht im Widerspruch zum Gesetz der Schwerkraft waagrecht abstehend auf einer Wand in seinem Kämmerlein auf und ab und redet mit sich selbst.

Musste einsehen, dass ich tatsächlich existiere und nicht bloß die Halluzination meiner selbst bin. Mein Blut ist jedenfalls echtes Blut, nicht bloß Theaterblut. Rätsle aber, wer ich letztendlich bin. Zähle eindeutig zu den Farbigen, nicht zu den Weißen. Außer mir scheint es aber kein grünes Männlein zu geben. Meine Eltern waren nicht grün, meine Brüder und Schwestern auch nicht. Habe auch in der medizinischen Fachliteratur keinen Hinweis darauf gefunden, dass es in Ausnahmefällen zu einer grünen Hautfarbe kommen könne.

Die Angst, die mich immer begleitet, ist die Angst, dass ich nur geträumt werde, nur eine Schachfigur in einem Traumschachspiel bin, wo ich von unsichtbaren Händen hin und her geschoben werde, – Bauernopfer oder kurz vor dem Schachmatt stehender König. Die mächtige Dame der gegnerischen Partei steht mit einem Springer, Läufer oder Turm an ihrer Seite dem König gegenüber und verkündet sein Todesurteil.

Totenstille. Es gibt keinen Ausweg, wir sind verloren im Kosmos. Ein paar hilflose bejubelte Hüpfer auf den Mond, bejubeltes Sondieren der Marsoberfläche, der rote Planet, aber keine einzige Rothaut da oben, geschweige denn ein grünes Männlein. Na, und auf unserem anderen Nachbarplaneten, der Venus, ist es völlig konträr zu ihrem Namen nach der altrömischen Liebesgöttin noch viel unwirtlicher als auf dem Mars. Überall nur speiende Vulkane und glühende Lavaströme.

Habe selbst innere Vulkanausbrüche, bin aber nach außen hin gehemmt, halte mich penibel an die Straßen- und Umgangsverkehrsordnung, will keinen Strafzettel bekommen. Verspüre allerdings den Drang, heimlich weibliche Statuen zu befummeln, von denen es leider kaum welche im öffentlichen Raum gibt. Gehe deshalb auf Friedhöfe, wo man ab und zu sehr schöne, trauernde weibliche Statuen finden kann. Die befummle ich aber nur, wenn keine Friedhofsbesucher oder Friedhofsgärtner zu sehen sind. Ist ein wunderbares Gefühl, weibliche Statuen zu befummeln. Ejakuliere dabei manchmal in meine Unterhose. Muss dann nach Hause gehen, um die Unterhose zu wechseln.

Bekomme unverschämterweise einen anonymen Drohbrief nach dem anderen in den Briefkasten geworfen, höchstwahrscheinlich von böswilligen Nachbarn, denen ich nicht ganz grün bin. In dem Haus, in dem ich wohne, gibt es offenbar nur bösartige Nachbarn. Da steht dann zum Beispiel in so einem Drohbrief geschrieben: „Geh zurück in deinen Sumpf, aus dem du gekrochen bist, du hässlicher alter Grottenolm!“ Ich werfe sie sofort in die Mülltonne, also die Drohbriefe, nicht die Nachbarn. Die würden ja nicht in eine Mülltonne passen. Schade eigentlich.

Derzeit bekomme ich etwas weniger Drohbriefe. Vermutlich sind die Nachbarn durch das ganze Theater um den Coronavirus von mir abgelenkt. Der arme kleine Coronavirus! Alle sind gegen ihn, wollen ihn loswerden, ausrotten. Er kann doch nichts dafür, als Virus auf die Welt gekommen zu sein. Es bleibt ihm ja gar nichts anderes übrig, als sich entsprechend seiner Natur zu verhalten, und diese sagt ihm: Befall die Atemwege und Lungengewebe der Menschen, friss dich da durch, friss dich satt. Lass die Menschen ruhig ihre Impfstoffe entwickeln, du bist variabel, du kannst dich dieser Impfstoffe erwehren, du mutierst ganz einfach von einer Variante in die andere. So schnell kommen die gar nicht mit der Entwicklung immer neuer Impfstoffe nach. Nee, nee, so leicht wird man dich nicht mehr los.

Bei den Fledermäusen ist es für den Coronavirus amüsanter. Die haben sich an ihn gewöhnt und traktieren ihn nicht mit Impfstoffen. Die flattern mit ihm in romantisch verfallenen Gemäuern herum, wo es still und geheimnisvoll ist, und wo vor allem kein Herr Lauterbach, der Obercoronajäger herumspukt, bei dem man den Eindruck bekommen kann, er sehne sich geradezu nach einer neuen Coronainfektionswelle, damit er wieder öfter im Fernsehen zu sehen ist. Man hat ihn ja inzwischen fast vergessen. – Eine weitaus größere Gefahr als eine Coronainfektion ist für mich der Straßenverkehr. Wäre schön, wenn sich alle Autofahrer an die gute alte Straßenverkehrsordnung halten würden. Ordnung muss sein, sprach schon Wallenstein und pisste sich aufs linke Bein. Er war aber kein Schwein. Die Schweine haben es mehr mit der Pest, der Schweinepest.

Da fällt mir spontan Budapest ein, diese schöne Stadt an der Donau, einst neben Wien und Prag die Haupt-Metropole der leider oder zum Glück schon untergegangen Donaumonarchie. Oh Donau so blau, so blau, so blau, und die Leut‘ sind so blau, so blau, so blau. Man hat in der K.u.k.- Monarchie schlichtweg zu viel gesoffen. Dies konnte auf Dauer nicht gut gehen. – Halt! Ich verrenne mich. Draußen beginnt es bereits zu dämmern, Abenddämmerung, Dämmerung des Abendlandes, Untergang des Abendlandes. Endlich ist es so weit, war ja auch höchste Zeit, war ja nicht mehr auszuhalten, dieses ständige Gejammere vom drohenden Untergang des Abendlandes. Ich hingegen jammere nicht. Ich liebe Untergangsstimmungen, bin eindeutig Untergangsromantiker.

Ich glaube ja von mir, ein großer Dichter zu sein. Man malt sich Utopien aus, weil man die brutale Banalität der Wirklichkeit nicht ertragen kann. Außerdem ist man den Träumen hilflos ausgeliefert, die machen mit einem, was sie wollen, lassen sich nicht regulieren. Es lässt sich sowieso nichts mehr regulieren. Die von uns verursachte Klimaveränderung führt zu immer höheren Temperaturen und zu immer gewaltigeren Naturkatastrophen. Dagegen ist jeder Albtraum harmlos. All die vorauseilenden Gehirne genialer Frauen und Männer, all die Gesänge, Choräle, Arien, das ganze Affentheater von Liebe, Geburt und Tod, dies alles wird in absehbarer Zeit von niemandem mehr zu registrierende Vergangenheit sein. Leider werden auch die Friedhöfe verfallen, und somit auch die von mir so sehr geliebten trauernden weiblichen Statuen.

Aber wir spielen unbarmherzig weiter Schach, wollen unbedingt gewinnen, wollen nicht zu den Verlierern gehören, und sind doch von Geburt an Verlorene in den unendlichen Weiten des Weltalls, das nichts von uns weiß, und selbst wenn es etwas von uns wüsste, wäre ihm das vollkommen egal. Man spürt in allen Knochen Ermüdung, es knarrt im Gebälk, vom Holzwurm zerfressen, vom Hirnwurm zerfressen. Man klammert sich am Phantom irgendeines Gottes fest, man reitet auf Prinzipien herum, wird zum Ordnungsfanatiker. Man träumt von der guten alten Zeit, als alles noch im Lot war, die es aber in Wirklichkeit nie gegeben hat. Es war nie alles im Lot.

Ich erschlaffe, mein Ende naht, bald bin ich von mir erlöst, und auch ihr, geduldige Leserinnen und Leser oder LeserInnen oder Leser*innen oder Leser:innen oder wie auch immer seid von mir erlöst. Aber so bin ich nun mal. Man kann ja nur sprichwörtlich aus der Haut fahren, nicht aber tatsächlich, und in eine andere Haut schlüpfen. Man kann auch nicht ganz einfach mutieren wie ein Virus. Wäre schön, wenn man wenigstens die Hautfarbe wechseln könnte, zum Beispiel in Schwarz-Rot gestreift. Man würde dann wie ein Anarcho-Weiblein oder -Männlein aussehen.

Heute muss übrigens Sonntag sein, dem unbarmherzigen Glockengeläute sowohl von katholischer als auch von evangelischer Seite her nach zu schließen. Der Religionskrieg wird nur noch mit Glockengeläute ausgetragen, dröhnt zwar schrecklich, ist aber immerhin unblutig.

So, jetzt steige ich wieder von der Wand runter, ehe ich mich zwischen den inneren Fronten meiner Geistesblitze zerreibe und Zuflucht in der geistigen Umnachtung suchen müsste. Man kann ja nicht andauernd die Wände hochgehen. Werde mich zu Oma Liselotte, der alten Lotterlotte, in ihre Lottergrotte legen. Und ein Chor möge siebenmal singen:

Eine Nacht, ein Virus, ein Schrei,
eine tote Oma und ein altes grünes Männlein.

Das alte grüne Männlein steigt von der Wand runter und bewegt sich wieder dem Gesetz der Schwerkraft gemäß.

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