Ein Niemand

Von Henning Brüns

An jenem fernen Tag, als die Seuche begann, war ich noch nicht geboren. Niemand hatte zu der Zeit wissen können, dass sie gekommen war, um zu bleiben. So wie auch ich natürlich bleiben wollte, als ich neun Monate nach ihrer Offenbarung das Licht der Welt erblickte, ohne zu ahnen, dass ich die Finsternis der Gebärmutter gegen die Finsternis des menschlichen Daseins eingetauscht hatte. Ich weiß gar nicht, wann ich das erste Mal hörte, warum wir lebten, wie wir lebten. Natürlich, um zu überleben. Mehr Sinn gab es nicht. Die große Erzählung ließ keinen Zweifel zu. Sie gab alles Denkbare vor. Auch das Imaginäre. Was in ihr nicht vorgestellt wurde, durfte nicht als Vorstellung wiedergegeben werden. Die Worte der Wahrheit waren eindeutig auf der Seite ihrer Schöpfer.
Kurz vor der Auslöschung hatten letzte wenige Exemplare unsere Art begriffen, wie sie sich schützen konnten und was sie zu tun hatten, um ein Überleben zu ermöglichen. Nur in der Düsternis war es möglich, unentdeckt zu bleiben. Nur in der Finsternis konnten wir der Seuche entgehen. Aus dem Grund verbrachte ich die ersten Jahre meines Lebens in einem Wandschrank, in dem ich mit meiner Mutter lebte, die diesen nur verließ, um bestimmte Dinge zu tun, die Menschen offensichtlich tun müssen, um gesund und sauber zu bleiben und von denen ich noch nichts verstand, warum ich jedes Mal, wenn es soweit war, Krach schlug. Ich schrie so laut ich konnte, aber niemand interessierte sich für mich. Was ich nicht wusste, war, dass die Seuche taub war. Mein kindischer Krach interessierte sie nicht, kein Krach auf der Welt interessierte sie, aber selbst beim unscheinbarsten Augenlicht schlug sie zu. Alles Menschliche wie auch alles Unmenschliche darin wurde ausgemerzt. Erst Jahre später, als ich den Schrank ab und an verlassen durfte, lernte ich, dass allein die Blindheit unsere Rettung war und ich eine Augenbinde zu tragen hätte, um nicht in Versuchung zu kommen.
Die Menschen, die mich aufgenommen hatten, nachdem die erste Welle vorbei war, ein blindes Ehepaar aus der Nachbarschaft meiner richtigen Eltern, wie sie mir erzählt hatten, als mein Verstand in der Lage war, bis drei zu zählen, waren nette Leute. Ja, das könnte man behaupten, aber als ich wirklich zu denken anfing und zwischen Plus und Minus zu unterscheiden lernte, stellte ich diese Gewissheit mitunter in Frage und es kam mir in den Sinn, dass vielleicht sie es waren, die eine Gefahr darstellten, denn woher sollte ich die Gewissheit haben, dass die Seuche da draußen tatsächlich real war. Darüber hinaus fühlte sich meine Existenz ungleich vitaler an, wenn ich wenigstens die Aussicht in Betracht zog, dass es die Seuche war, die nicht existierte. Ein Kribbeln vorübergehender Tapferkeit durcheilte in diesen wenigen Sekunden meine Adern und weitete meine Pupillen, um der Düsternis einen Lichtschein abzutrotzen und sei er auch noch so kläglich. Vielleicht hatten sie sich die große Erzählung nur ausgedacht. Ein Märchen, um ihre Scham einzuhegen wie eine Herde schwarzer Schafe, dachte ich des öfteren, wenn die Unerträglichkeit jedes Maß verlor. Vielleicht hatten sie mich genommen, nur um selbst ein Kind haben zu können. Vielleicht hatte ich darum versteckt im Wandschrank leben müssen. Vielleicht war ich aber auch das, wovon in der großen Erzählung so oft die Rede war, vielleicht war ich ihr Heilsbringer, das Licht ihrer Zukunft. Ein Gedanke, der mich tröstete und fortgesetzt aufrecht atmen ließ, wenn ich glaubte, der Lebenswille habe jedwede Haltung in mir aufgegeben.
Das alles ging mir durch den Kopf, als ich von dem Mann, den ich gelernt hatte Dad zu nennen, eine Ohrfeige verpasst bekam, weil ich zu der Person, die ich Mom nennen musste, angeblich gesagt hätte, ich würde in der Nacht lieber allein schlafen wollen. Mehr war nicht. Aber Mom brach in Tränen aus und Dad kam hinzu und fegte mich vom Stuhl, so dass mir noch tagelang der Kopf dröhnte und ich für lange Zeit kein Wort mehr sagte und weiter jede Nacht zwischen ihren streng riechenden Leibern verbrachte. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich soweit war, dass mir quälend übel wurde im Unterleib, wenn die Nachtruhe angekündigt wurde und Mom meinen Körper ganz nah bei sich haben wollte, wenn sie vor Sorge, mir könnte etwas zustoßen, nicht einschlafen konnte. Aber was sollte mir denn zustoßen? Ich lebte doch vollkommen behütet in ihrer Dunkelheit. Wollten sie mich bewachen? Aber warum sollten sie das tun, eine Flucht war unmöglich. Überall um uns herum war die Seuche. Selbst wenn ich es wirklich gewollt hätte, ich wäre umgehend verseucht worden. Dad sprach jeden Tag davon und er sprach davon, welches Glück wir hätten, wenigstens uns zu haben. Dieses Glück ist das einzig Kostbare, das uns geblieben ist, sagte er und wie immer, wenn er „unser Glück“ in den Mund nahm, prüfte er die Fesseln an meinen Händen besonders sorgfältig. Ich fühlte mich gleich viel besser und freute mich, Teil der großen Erzählung zu sein. Sonst wäre ich verloren gewesen und ich wollte nicht verloren sein. Ich musste aufhören mir Gedanken zu machen, die Gedanken waren nicht gut. Die große Erzählung war alles, was ich hatte. Ohne sie war ich ein Niemand.

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© 2022 Henning Brüns
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