Von Johannes Morschl
In einer schwülen Augustnacht saß der Schriftsteller Fritz von Schitzow an seinem Schreibtisch und schrieb an einem Roman, der von den Adamiten, einer christlichen Sekte in Böhmen zu Beginn des 15. Jahrhunderts handelte, deren Anhänger ihren Kult in Form von Gruppensex ausübten. Schitzow war 62 Jahre alt und lebte seit ein paar Jahren in einer einsamen Hütte in einer abgelegenen Gegend in Niederbayern. Er hatte sich in diese Hütte zurückgezogen, um dem Lärm und der Hektik seiner Heimatstadt Berlin zu entkommen und sich ungestört der Arbeit an seinem Roman widmen zu können. Die Bevölkerung in dieser Gegend bestand überwiegend aus Bauern. Die meisten von ihnen waren erzkatholisch und manche der Alten waren auch abergläubisch. Sie fürchteten sich vor bösen Geistern und glaubten zum Beispiel, dass bei Stürmen und Gewittern die Wilde Jagd ihr Unwesen treibe, was auf den alten germanischen Glauben an Donar, den Donnergott, und sein wüstes Gefolge zurückging. Plötzlich erschrak Schitzow. „Was ist da auf einmal in meinem Kopf los? Das darf nicht wahr sein! Da trappelt ein kleines Tier herum! Das kann nur der berüchtigte Hirnmarder sein, an dem hier so viele Einheimische leiden! Er rumort nachts derart laut im Kopf herum, dass man nicht schlafen kann.“ Schitzow wusste, wie sich die Einheimischen gegen den Hirnmarder wehrten. Sie gaben in kurzen Abständen schaurige Töne wie vom Nebelhorn eines Schiffs von sich: „Tuuut – tuuut – tuuut.“ Dann bekam der Hirnmarder Angst und verstummte. Also begann Schitzow zu tuten. Ein Weiterschreiben war unter diesen Umständen nicht mehr möglich. Wenn es in seinem Kopf still wurde, versuchte er zu schlafen, und wenn der Hirnmarder wieder randalierte, tutete er wieder. Der Hirnmarder war aber zum Glück nur in der Nacht aktiv.
Am Morgen nach dieser unruhigen Nacht ließ Schitzow so wie jeden Morgen seine Hühner aus dem Hühnerstall raus, streute frisches Futter für sie, sammelte ihre gelegten Eier ein und beobachtete ihr Treiben. Die jungen Hennen gackerten frech über die Althenne Liz, die hocherhobenen Hauptes zwischen ihnen herumstolzierte, dabei ab und zu stolpernd. Am Hals waren ihr bereits die Federn ausgefallen und man sah ihre schrumpelige Haut. Manchmal gackerte sie unvermittelt los, doch richtete sich dieses Gackern an keines der Hühner, sondern sie gackerte mit sich selbst. Schitzow hat ihr den Namen Liz gegeben, weil sie ihn irgendwie an Liz Taylor erinnerte. Früher war sie die schärfste Henne weit und breit, aber jetzt krähte kein Hahn mehr nach ihr. „Die jungen Hennen sollten nicht so frech über sie gackern“, dachte Schitzow, „denn irgendwann werden auch ihnen die Federn ausfallen.“ Der für die Begattung zuständige Hahn, der auch nicht mehr der Jüngste war, erklomm mit Müh und Not den Misthaufen, seinen Feldherrnhügel, und krächzte erbärmlich: „Chicherichiii! Chicherichiii!“ Schitzow hat ihm den Namen Napoleon gegeben, da er, als er noch in seiner vollen Kraft war, wie ein Diktator aufgetreten ist. Wie der die Hühner herumgescheucht hat! Doch heute fürchtete sich kein Huhn mehr vor ihm. Sie ignorierten ihn ganz einfach. Er hat in seinem Leben schon so viele Hennen besprungen, doch jetzt schaffte er dies nur noch selten. Die Hennen bräuchten eigentlich einen jüngeren Hahn als Begatter. Aber Schitzow wollte warten, bis Napoleon das Zeitliche segnete. Er hing zu sehr an ihm und erkannte sich bis zu einem gewissen Grad in ihm wieder.
Da fiel ihm plötzlich das Begräbnis von Luzi auf dem Dorffriedhof von Kreizlberg ein, das bereits begonnen haben musste. „Verdammter Hirnmarder!“, fluchte er, dem er die Schuld daran gab, das Begräbnis fast vergessen zu haben. Er hätte sich das nie verzeihen können. Luzi war von einem betrunkenen Autofahrer angefahren worden, der viel zu schnell auf der Landstraße fuhr, auf der sie zu Fuß unterwegs war. Sie war auf der Stelle tot. Luzi war die einzige Frau, mit der Schitzow in den letzten Jahren Sex hatte. Sie war die feurige Witwe des Dorfschmieds Simerl Haueisen und lebte von einer kleinen Witwenrente, die sie mittels heimlicher Stelldicheins mit dem Bürgermeister, dem katholischen Pfarrer, einigen Bauern und auch mit Schitzow aufbesserte. Sie war aber keine professionelle Prostituierte. Es lief bei ihr alles auf Spendenbasis und am Finanzamt vorbei.
Schitzow trieb die Hühner wieder in den Hühnerstall, zog sich seinen schwarzen Anzug an, schwang sich auf sein Fahrrad und radelte so schnell er konnte nach Kreizlberg. Er kam gerade noch zum Ende der Grabrede des Pfarrers an, als dieser sichtlich ergriffen sprach: „Luzi war Jesus immer in Liebe zugetan. Sie war wie Maria Magdalena.“ „Aus dem Munde des Pfarrers hat dieser Spruch etwas Zweideutiges“, dachte Schitzow. Die Trauergemeinde bestand ausschließlich aus Männern, die Luzi mittels Geldspenden nähergekommen waren. Die Ehefrauen der Männer waren nicht erschienen, auch die Haushälterin des Pfarrers nicht. Sie hatten Luzi schon immer geschnitten, denn sie wussten, mit wem es die Männer heimlich trieben. In einer ländlichen Gemeinde, wo sich alle kennen und miteinander versippt und verschwägert sind, lässt sich kaum etwas verbergen. Auch die noch lebenden Verwandten von Luzi, eine Tante und eine Kusine, waren nicht erschienen, ebenso nicht der Bruder ihres verstorbenen Mannes und dessen Frau und Kinder. Sie alle hatten sich wegen der Gerüchte über Luzis unsittlichen Lebenswandel von ihr abgewandt, wobei die Gerüchte viel unsittlicher waren als ihr tatsächlicher Lebenswandel. Kinder hatte Luzi keine. Das war eine empfindliche Stelle bei ihr. Fragte man sie, warum sie keine Kinder habe, wurde sie entweder traurig und lief weg, oder sie wurde abweisend und fuhr einen an: „Des geht di oan Schoasdreck aun!“ Schitzow hat nie erfahren, warum sie so reagierte.
Als die Zeremonie der Grablegung begann, sprach der Pfarrer: „Der allmächtige Gott, der dich geschaffen hat, ruft dir zu: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich rufe dich bei deinem Namen: Luzi Haueisen, du bist mein!“ In der Stimme des Pfarrers lag etwas Triumphierendes, so als gehöre Luzi ab jetzt nur noch ihm allein. Dann wurde Luzis Sarg in das Grab gesenkt. Der Pfarrer sagte einen Spruch aus der Bibel auf und warf dann ein Häufchen Erde auf den Sarg, wobei er sprach: „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.“ Kaum war er damit zu Ende, torkelte der alte Bauer Loisl Wiesinger, der voll wie eine Haubitze war, auf ihn zu, umarmte ihn und küsste ihn auf die Stirn. Dabei gerieten beide ins Wanken, verloren das Gleichgewicht und fielen ins Grab. Von unten hörte man dann Loisl laut zum Pfarrer sagen: „Jo, Hochwürdn, du woast nit da oanzige Jesus bei unsara Maria Magdalena! I woa a da Jesus! Und sogoa da varruckte zuagraste Preiß woa da Jesus!“ Mit dem verrückten zugereisten Preußen war Schitzow gemeint. Daraufhin ertönte ein herzzerreißendes Schluchzen aus dem Grab.
Schitzow und die anderen Männer traten an den Rand der Grabes und sahen, wie sich unten der Loisl und der Pfarrer auf Luzis Sarg in den Armen lagen, beide in Tränen aufgelöst. „Welch prächtiges vulkanisches Weib war die Luzi!“, dachte Schitzow und spürte, wie sehr sie ihm schon jetzt fehlte. Da überkam ihn urplötzlich der Drang, zu ihr ins Grab zu springen. Er landete auf Loisl und dem Pfarrer. Der Pfarrer bekreuzigte sich, da er Schitzow der Anhängerschaft des Erzfeinds Martin Luther verdächtigte. Loisl hingegen umarmte Schitzow rührselig und lallte: „Jo, die Luzi, des woa scho oane! Und wos des füa oane woa! A Heilige woa des!“ Sein Atem roch nach Bier und Obstler. Die übrigen Männer hielten es nun oben nicht mehr aus und sprangen ebenfalls ins Grab, sodass es von Leibern überquoll. Ein fremder Beobachter hätte glauben können, es handle sich hier um ein höchst seltsames ländliches Begräbnisritual, bei dem die Trauergemeinde ins Grab springen müsse, anstatt wie üblicherweise nur ein Häufchen Erde auf den Sarg zu werfen.
Im Grab gab es nun ein Gewühle heulender und einander umarmender Männer in schwarzen Anzügen. Schitzow bekam keine Luft mehr. Er versuchte sich aus dem Gewühl zu befreien, doch es gelang ihm nicht. Er fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Wie in einem Traum erschien ihm plötzlich Luzi, wie sie nackt mit einem Skelett Tango tanzte. „Hast du aba abgnommen, Fritz!“, sagte sie zu dem Skelett und lachte. Schitzow geriet in Panik und dachte: „Was? Dieses Skelett soll ich sein? Und außerdem kann ich gar nicht Tango-Tanzen!“ Trotz seiner Sehnsucht nach Luzi wollte er lieber doch noch nicht zum Tango tanzenden Skelett werden. Mit letzter Kraft schaffte er es, sich frei zu wühlen und aus dem Grab zu klettern. Oben angekommen dachte er: „Ich muss Tango-Tanzen lernen, damit ich später, wenn ich tot bin, mit Luzi im Jenseits tanzen kann. Aber ich mache so ungern einen Tanzkurs! Luzi kann mir ja im Jenseits das Tango-Tanzen beibringen. Da haben wir dann ewig Zeit dafür, und die werden wir bei meinem Talent zum Tanzen auch brauchen.“
Langsam kletterten auch die anderen Männer aus dem Grab. Dann kehrten sie im Dorfwirtshaus ein, um der Luzi zu gedenken. Schitzow schloss sich ihnen an. Nach mehreren Bieren und Obstlern verwandelte sich das traurige Gedenken in ein Erzählen zotiger Geschichten, begleitet von wüstem Gejohle und Schenkel-Klopfen. Auch der Pfarrer trank Alkohol, aber nicht Bier und Obstler, sondern nur ein Glas Weißwein. Er schmunzelte ab und zu, wobei er, wenn es gar zu unanständig wurde, drohend den Zeigefinger hob und hin und her bewegte. Ansonsten hütete er seine Zunge, damit ihm nicht womöglich eine unkeusche Erinnerung an Luzi herausrutschen würde, denn das wäre ein Bruch des Beichtgeheimnisses. Er hatte sich nämlich seine fleischlichen Sünden immer selbst gebeichtet. Schließlich war er ja auch Beichtvater. Er erteilte sich auch immer selbst die Absolution und betete als Buße zehnmal das Vater unser und das Gegrüßet seist du, Maria.
Schitzow war von dem Verhalten der Männer angewidert. Er trank still sein Bier und fragte sich, wie Luzi mit solchen Rindviehern ins Bett gehen konnte. Doch dann sagte er sich: „Sie hat immer hier gelebt. Das Verhalten der einheimischen Männer war ihr vertraut, sie wusste mit ihnen umzugehen. Ich hingegen, der zugereiste Preuße aus Berlin, war ihr höchstwahrscheinlich viel fremder als die einheimischen Männer. Man könnte sich also genauso gut umgekehrt fragen, wie konnte sie mit einem zugereisten Preußen ins Bett gehen.“ Er erinnerte sich an kleine Sticheleien von ihr, wie zum Beispiel: „Du schaust heit aus da Wäsch, als hättst no koane Erdäpfeln ’gessn!“ Diese Stichelei beruhte auf dem Vorurteil, dass Kartoffeln die Hauptnahrung der Preußen seien, was sie ja früher einmal auch waren. In Brandenburg hatte man früher sogar vergoldete Kartoffeln an die Weihnachtsbäume gehängt. Er kannte dieses Vorurteil auch von den Polen, die generalisiert zu allen Deutschen Kartoffeln sagen.
Eigentlich wollte er wieder zu seiner Hütte zurückfahren, aber das bayrische Bier, das ihm so gut schmeckte, hielt ihn im Wirtshaus fest. Schließlich setzte der Hirnmarder dem Ganzen ein Ende, der bei anbrechender Dunkelheit in den Köpfen aktiv wurde. Er hatte nicht nur Schitzow, sondern jeden der anwesenden Männer einschließlich des Pfarrers befallen. Die ausgelassene Stimmung brach jäh ab. Wie auf ein Kommando begannen alle zu tuten: „Tuuut – tuuut – tuuut.“ Tutend bezahlten sie beim Wirt, der ebenfalls zu tuten begonnen hatte, und machten sich tutend auf den Heimweg. Während Schitzow tutend zu seiner Hütte radelte, fiel ihm ein, dass Luzi ihm erzählt hatte, noch nie vom Hirnmarder befallen worden zu sein. Sie hatte offensichtlich zu den wenigen Leuten in dieser Gegend gehört, die gegen den Hirnmarder immun waren.
Nachtrag:
Sollte es Sie jemals in diese Gegend verschlagen, so wundern Sie sich nicht, wenn Sie nach Anbruch der Dunkelheit ein schauriges Tuten aus den Dörfern und Gehöften hören. Sie wissen ja jetzt, worum es sich handelt.
*
© 2022 Johannes Morschl
Alle Rechte vorbehalten