Um Punkt sechs Uhr morgens stehe ich auf. Auch diese Nacht habe ich allein auf der Couch im Wohnzimmer verbracht, und auch diese Nacht hat mich die Sorge um dich kaum schlafen lassen.
Bedrückt registriere ich das unter der geschlossenen Schlafzimmertür durchschimmernde Licht, als ich leise daran vorbei Richtung Küche gehe. Dass du neuerlich nachts das Licht eingeschaltet lässt, ist ein weiteres alarmierendes Zeichen für mich. Unweigerlich muss ich an meine Mutter denken, die ebenfalls eine Zeitlang nur bei Licht schlafen konnte. Auf mich, den damals Siebenjährigen, wirkte das irritierend, ja, bedrohlich: Erwachsene sollten keine Angst im Dunkeln haben.
Ich verzichte auf ein Frühstück, öffne die Balkontür, gehe hinaus, um draußen zu rauchen. Aufseufzend lasse ich mich in den Schaukelstuhl sinken, wickle eine Decke um mich, suche, während ich mir eine Zigarette anzünde, nach etwas Blau am Himmel, vergeblich; suche ebenso vergeblich nach etwas Leichtigkeit in mir selbst. Es gibt kein Entrinnen. Die Welt draußen spiegelt offensichtlich meine Innenwelt. Bedrückendes Grau beherrscht das Außen und lastet schwer in meinem Inneren. Dabei will ich doch vor allem jetzt, in deinem Zustand, heiter, voll Zuversicht, will der berühmte Fels in der Brandung sein.
Ich dämpfe die Zigarette aus, hole tief Atem – und atme plötzlich Schneeluft. Ja, es riecht eindeutig nach Schnee. Verwundert schüttle ich den Kopf. Ich muss mich täuschen, schließlich ist doch erst Ende September. Doch da – es beginnt tatsächlich leicht zu schneien. Aus dieser dunklen Wolkendecke so völlig überraschend zartes Weiß fallen zu sehen, wirkt sich seltsam tröstend auf mich aus. Zuversicht beginnt sich in mir auszubreiten, je länger ich die tanzenden Flocken betrachte.
Es scheint mir inzwischen unmöglich, den Blick von dem weißen Schauspiel vor mir zu wenden, unmöglich, aufzustehen, unmöglich, ins Büro zu fahren, so wie gestern mit dir vereinbart, eigentlich vehement von dir gefordert.
„Ich ertrage es nicht, dass du die ganze Zeit an mir klebst, Oskar“, bist du mich plötzlich, ohne ersichtlichen Grund, beim Abendessen angefahren. „Keine Sekunde lässt du mich allein, obwohl es dazu überhaupt keinen Grund gibt. Ich bin schwanger und nicht krank, also bitte, bitte, geh ab morgen wieder arbeiten!“
Deine Stimme ist immer schriller, immer unangenehmer, jedes deiner Worte zu schmerzhaften Stichen in meinem Gehörgang geworden, wimmernd habe ich mir schließlich die Ohren zuhalten müssen, habe dich angefleht: „Bitte, Anna, ich bitte dich, schrei doch nicht so.“
Doch du bist umso lauter geworden, hast gebrüllt, was das nun wieder solle, die Lautstärke deiner Stimme sei doch dieselbe wie immer, du hast dich hineingesteigert, wie so oft in letzter Zeit, hast das Besteck auf den Tisch geknallt, bist aufgesprungen, hast geschrien, dass das nicht mehr so weitergehe, du willst normal mit mir reden können und nicht flüstern müssen, dass die Kommunikation zwischen uns generell nicht mehr funktioniere, dass meine Harmoniesucht völlig überzeichnet und abnormal sei, ich sämtlichen, auch völlig harmlosen Auseinandersetzungen panisch ausweiche, vor jeder noch so kleinen Reibung flüchte, dass du – ja, dass du meine Art nicht mehr erträgst, meine übertriebene Fürsorge, meine unerträgliche Sanftheit, meine ständige stille Anwesenheit – und dann, als ich dich beruhigen wollte: „Anna, bitte, reg dich doch nicht so auf, denke an unser Baby..‘, hast du sogar vor Wut ein paar Bücher aus einem Regal gerissen und zu Boden geschleudert.
Wieder fällt mir die Parallele zu meiner Mutter auf, denke an deren Gereiztheit und Unberechenbarkeit. Manchmal, wenn das Nachbarskind zu Besuch war und wir in meinem Zimmer spielten, hat sie uns lächelnd Saft und Kuchen gebracht, war herzlich und fröhlich, doch nur Minuten später hat sie die Tür aufgerissen und uns böse angebrüllt, dass wir gefälligst leiser sein sollen, sie halte diesen Lärm nicht aus. Und wie oft, wenn ich ihr irgendetwas erzählen wollte, hat sie mich hysterisch angeschrien: „Sprich mich jetzt ja nicht an, Oskar! Lass mich in Ruhe, geh weg von mir, ich will allein sein“, um sich dann kurz darauf weinend bei mir zu entschuldigen.
Mir ist kalt, ich wickle die Decke enger um mich, denke wieder an dich, an den schönen Beginn unserer Beziehung, und daran, dass du dich doch gerade wegen meiner ruhigen Art, die dir nun so missfällt, in mich verliebt hast. Endlich jemand, der nicht ständig diskutieren und recht haben muss, hast du damals gesagt, endlich jemand, der zuhören kann. Noch vor wenigen Monaten verliefen unsere Tage harmonisch, nie hast du Streit mit mir gesucht, im Gegensatz zu jetzt. Wie sehr du dich doch verändert hast, speziell in den letzten Wochen. Wieder steigt heiß Sorge um dich in mir auf und ich fasse den Entschluss, mich weiterhin im Büro krank zu melden, bei dir zuhause zu bleiben, auf dich achtzugeben, auch wenn du das nicht möchtest. Auf keinen Fall werde ich dich allein lassen. Der Fehler von damals wird sich nicht wiederholen.
Damals – da hatten die Eltern alles für eine Woche Winterurlaub vorbereitet, das Hotel war reserviert, die Koffer gepackt, doch dann, kurz vor der Abfahrt, hat die Mutter zum Vater gesagt: „Sei mir nicht böse, aber ich möchte zuhause bleiben. Ich bin müde, schrecklich müde, ich brauche Ruhe – brauche dringend ein paar Tage nur für mich. Bitte fahrt ohne mich, lasst es euch gut gehen in den Bergen, du und Oskar.“
Als der Vater gezögert hat, ist sie wie so oft wütend geworden: „Jetzt lasst mich doch endlich mal allein! Du und Oskar, ihr klebt ja die ganze Zeit über förmlich an mir. Und immer deine unnötige Sorge um mich, das macht mich fertig! Kapier doch endlich: Ich bin schwanger und nicht krank!“ –
„Stopp. Aus. Stopp“, sage ich jetzt halblaut, und die inneren Bilder der Vergangenheit verblassen und verschwinden folgsam, ich schließe die Augen, ziehe die Decke bis übers Kinn, schrecke auf, als du plötzlich mit wirrem Haar im Morgenmantel vor mir stehst. Offensichtlich bin ich trotz der Kälte eingenickt.
„Was ist mit dir, warum bist du nicht im Büro?“ Du klingst müde, abgekämpft.
„Ach, Anna – also, ich bleibe doch noch zwei, drei Tage zuhause. Ich gebe im Büro Bescheid, das ist kein Problem“, stottere ich, sehe, wie du deine Lippen zusammenpresst, die Stirn in Falten legst.
„Aber was sagst du zu diesem Wunder: Schneefall im September.“ Ich werfe die Decke von mir, stehe auf, strecke meine Hand über die blühenden Balkonpflanzen, um ein paar Flocken aufzufangen, sehe hinunter in den glitzernden Innenhof. „Der Schnee bleibt sogar liegen, schau!“
Du schaust nicht. Du starrst mich an, lange und sonderbar fassungslos, dann fauchst du: „Jetzt spinnst du also komplett!“
Du wendest dich ab, gehst hinein. Ich folge dir, doch du durchquerst schnell die Küche, gehst, die Tür vor mir zuknallend, ins Wohnzimmer. Deprimiert höre ich dich schimpfen:„ ..vollkommen übergeschnappt.. wird immer ärger.. redet von Schnee bei dem schönen Wetter..“ Dann ist kurze Zeit Stille, und nun vernehme ich gedämpft deine veränderte, ruhige Stimme: „Hi, ich bin’s, Anna ..“
Mehr verstehe ich nicht, offensichtlich bist du telefonierend weiter ins Nebenzimmer gegangen.
Kurz darauf kommst du zurück, würdigst mich keines Blickes, während du eine Tasse aus dem Küchenschrank nimmst, den Wasserkocher einschaltest, dann Tee aufgießt und sagst:
„Oskar, ich habe vorhin Mark angerufen. Wir haben Glück, ein Patient hat abgesagt, um zehn Uhr können wir zu ihm in die Praxis.“
Das kommt völlig unerwartet. Ich muss mich bemühen, meine Erleichterung nicht allzu offen zu zeigen. Ich habe dich unterschätzt: Es ist dir also sehr wohl bewusst, wie gefährdet du bist. Sicher hat es dich enorme Überwindung gekostet, Mark anzurufen, deinen Kusin, der ein paar Straßen von uns entfernt seine psychiatrische Praxis hat.
„Ich finde das großartig von dir“, sage ich und bemühe mich, meine Stimme fest und nicht allzu bewegt klingen zu lassen. „Ich meine, eben auch im Hinblick auf unser Baby.“
Du meidest meinen Blick, nippst nervös an deinem Tee, gehst unruhig hin und her.
„Ich ziehe mich dann mal an, wir sollten bald losgehen“, sagst du, verschwindest im Badezimmer. Während ich mich anziehe, nehme ich mir fest vor, dir eine Stütze zu sein, vor allem nichts zu tun oder zu sagen, was dich reizen könnte.
Als du jedoch kurze Zeit später im dünnen Kleid und Sommerschuhen vor mir stehst, kann ich mich nicht zurückhalten und sage so sanft wie möglich: „Entschuldige, Anna, ich will dich sicher nicht bevormunden, aber du hast doch nicht ernsthaft vor, bei diesem Wetter so gekleidet rauszugehen?“
Ich deute zum Balkonfenster, hinter dem es unentwegt schneit. Ich selbst habe mir dem Wintereinbruch angemessen Daunenjacke und Stiefel angezogen. Deine grüne Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen.
„Es ist September, es ist warm draußen, blauer Himmel, herrlichster Sonnenschein. Zieh du an, was du willst, Oskar, aber bitte, bitte, sag ja nichts Verrücktes mehr von Schnee, sag am besten gar nichts mehr, bis wir bei Mark sind!“
Du schnappst deine Tasche, öffnest die Wohnungstür. Ich bin versucht, dir zu widersprechen, greife nach meinem Smartphone, um wetter.com einzugeben und dir die frühwinterlichen Tatsachen, die du einfach leugnet, die du ins Gegenteil verkehrst, in digitaler Form zu präsentieren, denke dann aber an deinen Zustand, an das Baby, und sage nichts, binde mir einen Schal um und folge dir die Treppe hinunter.
Unten im Eingangsbereich wartest du, legst mir kurz deine Hand auf die Schulter.
„Ach, Oskar“, sagst du nun leise. „Ich möchte nicht ständig mit dir streiten, mir ist – mir ist einfach alles zu viel. Wir werden mit Mark reden, er wird uns hoffentlich helfen können. Gehen wir jetzt.“
Ich nicke dir betont aufmunternd zu und öffne die Haustür, was mir Mühe bereitet, denn ein starker Schneesturm wirft sich dagegen, und weht mir eiskalt ins Gesicht, als ich nach draußen trete. Ich blinzle, kann kaum die Augen offenhalten, teils wegen dem Sturm, teils wegen dem strahlenden Weiß, das die ganze Umgebung bedeckt und mich blendet. Du gehst vollkommen unbeeindruckt von all dem an mir vorbei, obwohl du beinahe bis zu den Knöcheln im Schnee versinkst, hältst deinen Kopf aufrecht wie immer, als ob du den eisigen Wind nicht spüren würdest, nicht das Nass, das er dir ins Gesicht, auf dein Haar, in deinen Nacken weht.
„Was ist denn? Nun komm doch!“, drehst du dich zu mir.
Ich schlinge den Schal enger um meinen Hals, stemme mich gegen den Sturm und stapfe zu dir. Der Schnee knirscht laut unter meinen Schuhen.
„Wahnsinn, nicht? Plötzlich Winterwetter!“ entschlüpft es mir. „Frierst du nicht, Anna? Soll ich dir eine Jacke holen?“ Angst um dich steigt in mir auf. Ich kann dich kaum ansehen in deinem dünnen Kleid, das nass an deinen Beinen klebt.
„Oskar, ich warne dich: Kein Wort mehr übers Wetter! Mir ist warm, ich brauche keine Jacke“, ist deine böse Antwort, du drehst sich weg, gehst weiter.
Verzweifelt bemühe ich mich, mit dir Schritt zu halten. Ein Radfahrer fährt vorbei. Wie kann man nur zu diesen Bedingungen mit dem Rad unterwegs sein, in kurzen Hosen noch dazu? Ich verstehe die Welt nicht mehr. Ich muss mich Schritt für Schritt vorwärtskämpfen, der Sturm lässt nicht nach, stellenweise ist es auch sehr rutschig. Unter der Schneedecke liegt anscheinend eine gefährlich glatte Eisschicht, sodass ich alle Mühe habe, das Gleichgewicht zu halten. Das Tröstliche, das der Schneefall am Morgen in mir ausgelöst hat, hat sich längst in Bedrohliches gewandelt. Wie gerne hätte ich dies einfach ausgesprochen. Früher hättest du mich verstanden, hättest meine Gedanken aufgegriffen und sie weitergesponnen, nun aber geht du ein paar Meter vor mir, gefühllos, eine Fremde, die weder Kälte und Nässe noch meine stetig wachsende Angst und Verzweiflung zu spüren scheint.
Als ich um die Ecke biege, passiert es. Ich rutsche aus, lande mit dem Gesicht voran unsanft im Schnee. Ich höre jemanden schreien, laut und anhaltend schreien. Ich halte mir die Ohren zu, presse mein Gesicht in den Schnee. Und jetzt steigt unaufhaltsam und eiskalt die Erinnerung in mir auf. Genauso wie ich jetzt daliege, der Länge nach, das Gesicht im Schnee, genauso war meine Mutter gelegen, genauso haben mein Vater und ich damals die Mutter vorgefunden. Nach den Tagen in den Bergen das Heimkommen in ein verlassenes Haus, auf dem Küchentisch leere Tablettenschachteln, leere Schnapsflaschen. Hinterm Haus, im schneeweißen Garten, die Mutter – so ruhig, so still, so alleine – die Mutter, in einem viel zu dünnen Kleid regungslos auf einer Schneedecke liegend. Ich sehe vor mir, wie mein Vater sich über sie beugt, panisch immer wieder ihren Namen ruft, wie er hektisch ins Haus läuft, drinnen den Notruf wählt, sich gleich darauf wieder neben die Mutter in den Schnee kniet, laut schreit und weint, sehe mich starr und stumm daneben stehen und denken: ‚Nein, Papa, hör auf zu schreien, Mama möchte doch ihre Ruhe haben‘, sehe mich still auf meine Mutter schauen, auf den Schnee, der sanft zu fallen beginnt und mich seltsam tröstet, auch noch, als mich irgendjemand in die Arme nimmt und wegträgt…
Aber jetzt, jetzt -, registriere ich plötzlich, jetzt bin ich nicht still, jetzt schreie und weine ich, ähnlich wie damals Vater, verzweifelt und laut. Ja, derjenige, wegen dessen markerschütternden Schreien ich mir die Ohren zuhalten muss, bin ich selbst.
Von weit weg höre ich eine fremdklingende erschrockene Stimme: „Oskar! Oskar, sag mir, was ist mit dir? Komm, steh bitte auf, ich stütze dich. Hast du dir wehgetan?“
Du? Ja, du bist es. Anna. Ach, du weißt ja nicht, warum ich schreie, und nicht damit aufhören kann, du kannst nicht wissen, dass mich durch meinen Sturz in den Schnee die Erinnerung soeben dermaßen überwältigt hat, dass ich schreien muss wie noch nie in meinem Leben, mich nicht unter Kontrolle habe. Nie habe dir davon erzählt, kein Wort von meiner toten Mutter im Schnee, nichts von ihren Depressionen, ihrer Schwangerschaft – nur dies: „Meine Mutter hatte einen Unfall, als ich sieben Jahre alt war.“
Du hilfst mir auf, sagst nichts, als ich mir schließlich benommen den Schnee, den Schreck, die Erinnerung von der Kleidung klopfe, nimmst mich liebevoll stützend in den Arm, als wir langsam und schweigend weitergehen, jeder Schritt eine Qual für mich.
Zitternd nehme ich meinen nassen Schal ab, ziehe die schneeschwere Jacke aus, als wir endlich das Vorzimmer von Marks Praxis betreten. Du stehst neben mir, wischt dir mit einem Taschentuch die Nässe aus dem Gesicht, ich sehe dich an – aber nein, das ist kein Schnee, das sind Tränen, die du weg tupfst. Mark kommt uns entgegen. Hinter ihm dröhnen in unangenehmer Lautstärke Stimmen aus einem Radio, automatisch halte ich mir schützend die Ohren zu. Dennoch dringt eine fröhlich klingende Frauenstimme in meinen Gehörgang:
„Die Wetteraussichten: Es ist und bleibt ungewöhnlich mild heute, wolkenloser Himmel, Sonnenschein, bis zu 28°.“
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