Sind wir die Anderen?

Von Michael Wiedorn

Wir fahren mit dem Zug. In unserem Abteil gibt es keine Fenster und keine Sitze. Wir befinden uns in einem fensterlosen Raum mit dunkelbraunen Metallwänden. Nur die ratternde Unruhe unter unseren Füßen verrät uns, dass der Wagen nicht still steht. Rohe, mit Gewehren bewaffnete Polen bewachen einen nackten etwa achtzehnjährigen Jungen, der sich wie ein eingefangenes Fohlen losreißen und aus dem Zug türmen will. Ich weiß einfach, dass unsere Wächter Polen sind, obwohl sie die ganze Zeit nichts sprachen und niemand sie uns vorgestellt hat. Eine ältere Frau mit hoch gestecktem, eisengrauem Haar strickt. Eine sorgenvolle, pflichtbewusste Mutter. Sie sagt nur in ruhigem, fast gleichgültigem Ton und ohne auf ihre Umwelt zu blicken:“ Polenbande, Polackenbande, Bulgarengesocks!“ Beim Halt in Hannover reißt sich der Junge los und entschwindet durch die plötzlich offene Türe ins Freie. Wieso Hannover? Die Frau, die Wärter und ich beabsichtigen den Entflohenen zurückzuholen und bleiben in unseren Posen erstarrt. Wir stehen unter dem Zwang ihn wieder einzufangen und sind in uns eingesperrt. Die Alte sagt:“ Er muss sein ihm zugewiesenes Leben führen“. Die Türe in der Wand ist wieder spurlos verschwunden.

August 1993

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