Abschied vom Sommer

Von Michael Wiedorn

Das Haus steht schon seit Jahren leer. Die Fenster sind mit Holzplatten abgedichtet. Die Hausmauer ist dunkelgrau. Es regnet schon seit Tagen. Die Wege sind schlammig und zugedeckt vom Herbstlaub. Gelb, rot, braun. Die leeren Buchenäste drehen sich ratlos und trauernd im wehenden Herbstwind. Von Nässe schwarze Rinden. Jetzt am Nachmittag ist der Himmel lichtlos. Hinter dem Haus erhebt sich eine schroffe, dunkle Felswand.
Ein Schädel mit geöffnetem Maul, aus dem die Zähne hell leuchteten, schlug mit der Stirn gegen den Stein. Immer wieder und wieder. Aus der Wunde stürmte das Blut.
Ich greife an meine Stirn und knete die darüberliegende Haut, als wollte ich etwas aus meinem Gedächtnis pressen. Regen und Wind lassen mich frösteln. Es läuft mir kalt über den Rücken. War ich schon mal hier? Raben kreischen. Sie bewegen sich ruckartig auf dem Laub. Im Haus muss es erstickend dunkel sein.
Er tastete sich durch die schwarzen Zimmer und ihm wurde klar, dass er nie einen Ausgang ins Freie finden würde. Er war in sein Grab eingeschlossen. Das ewige Mal auf seiner Stirn. Ein zum Skelett Abgemagerter hauste hier seit unzähligen Jahren auf einer verseuchten Matratze. Ist er auf der Matratze geboren worden? Gezeugt und ausgetragen vom Ungeziefer. Arme und Beine waren taub oder abgestorben. Hatte er jemals Arme und Beine gehabt? Jahre zwischen Wachen und Traum. Er war der Welt abhandengekommen. Hatte ihn in den ersten Jahren nach seinem Verschwinden noch irgendjemand gesucht? Sein Namen und seine Existenz sind heute in der Außenwelt restlos ausgelöscht.
Draußen verwandelt sich der Regen in Schnee. Feuchter Schnee, der gleich wieder zerfließt. Der Winter wird hart werden. Weißer Schaum setzt sich nieder und zerfällt zu unsichtbarer Nässe. Um das Haus breiten sich schwarze Wälder aus. Weit und breit kein anderes Haus. Niemand kann etwas hören. Ich stehe hier tatenlos. Ich wandere rastlos auf und ab, als wartete ich auf etwas.
Ein junger Mann – kaum volljährig – wanderte aus dem sommerlich grünen Wald. Er blieb vor dem Haus stehen. Kannte er das Gebäude? Die Haustüre war sperrangelweit geöffnet. Er zögerte einzutreten. Ein Schwindel drohte ihn in dichtes Schwarz fallen zu lassen. Tief ist das Vergessen. Er ging weiter zum Felsen.
Ich gehe zwei Stufen hoch zur fest verriegelten Haustüre. Die mit verrostetem Schmiedeeisen vergitterte Milchglasscheibe ist zersplittert. Die Bruchlinien laufen in die Mitte wie Spinnenbeine zum Spinnenrumpf. Hinter dem Glas ist noch eine Holzplanke befestigt.
Der leblose Körper an der Felswand wurde an den Armen hochgehoben und zum Haus gezerrt. Das Gesicht war unter der Blutkruste nicht zu erkennen. Ich blickte auf den roten Klatschmohn in den blühenden Wiesen. Durch die Anstrengung troff ich von Schweiß. Aus dem offenen Mund des Verletzten drang ein leises Stöhnen. Die Mauern des Hauses werden ihn bergen.
Es wird keinen Sommer mehr geben.
Die Luft war voller fliegender Pollen. Wespen summten und flogen Blüten an. Rot versickerte das Blut am Felsen.
Ich habe es vergessen.

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© 2022 Michael Wiedorn
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