Von Hannah Knaak-Völker
Zufriedenheit
Ein im Hong Konger Kloster Chi Lin zu lesender Spruch lautet:
„Suche beim Erledigen deinen Angelegenheiten nicht den einfachen Weg. Ohne Hindernisse wirst du stolz und extravagant. Solche Gedanken beeinträchtigen alle anderen. Daher betrachtet ein heiliger Mensch das Mühen als Weg zur Freiheit.“
Ein ewig stabil bleibendes, gleiches Zufriedenheitsmaß für den Rest meines Lebens würde sich jeden Tag wie den vorherigen anfühlen lassen. Die Gefühlsantwort auf dieses Zufriedenheitsniveau würde mir nach kurzer Zeit kein Glück mehr bescheren, auch wenn mich diese Menge Zufriedenheit möglicherweise einst zu Glücksgefühlen verführte. Es ist alles abhängig von den Proportionen.
Das Verhältnis eines Zustandes zu einem anderen; eine Veränderung, die eine Verbesserung eines Zustandes bewirkt – nicht eine quantifizierbare feste Qualität – erweckt Freude. Ohne die Beziehung, die den einen Zustand zum nächsten ins Verhältnis setzt, fällt es der Freude schwer sich von der Gewöhnlichkeit alltäglicher Langeweile hervorzuheben. Die Vergangenheit erscheint im Licht der Gegenwart und die Gegenwart im Licht der Vergangenheit.
Das Ringen um Glück bestimmt unser Verhältnis zu Glück und Unglück. Es muss viel und wenig Glück geben, weil viel nur im Verhältnis zu wenig, viel ist.
So kommt es häufig, dass ältere Menschen sich an kleinen Dingen, wie Blumen und Licht, leichter erfreuen als Workaholics mit ihren selbst angelegten Scheuklappen. Ihre Wertschätzung hat sich im Laufe des Lebens skaliert. Gutes wird nicht mehr leichtfertig hingenommen und Schlechtes nicht mehr als unüberwindbares Übel betrachtet. Großes und Unbedeutendes tritt in den Hintergrund – vielleicht ist nicht mehr viel Zeit, aber der Moment ist da, solange der Atem einen nicht im Stich lässt – , wenn nichts anderes mehr zählt, als ein weiterer Augenblick häufig verkannter Schönheit.
Die Bedeutung kleiner, schöner Dinge ist, dass sie die Abwesenheit des Beschwerlichen, Schmerzlichen, Hässlichen und Chaos in einem Moment anzeigen. Sie sind Freude und Erleichterung in einer Welt, in der immer etwas auffindbar ist, das es wert ist, die Augen zu verschließen und die Gedanken auf der Suche nach Leichtigkeit zu zerstreuen.
Doch mit Ruhe, Muße und Zeit drängen sich einem auch all die Dinge auf, die es wert sind, allen Sinnen ihr Sinnen zu erlauben.
Berge & Täler
Berge und Täler bedingen einander. Ohne sie wäre die Erde glatt, auf der zu wohnen zwar weniger anstrengend wäre, als sich mit Gebirgen und Schluchten abmühen zu müssen, aber da dieser Zustand auch der einzig bekannte wäre – und daher der normale – würde sich das Leben in Ermangelung eines Vergleichs nicht leichter anfühlen als sonst. Erst der Berg gibt der Ebene ihr bestechendes Qualitätsmerkmal der verheißenden Einfachheit.
Jede Wertschätzung benötigt der Hilfe eines Maßstabs: Der Berg muss beschwerlich sein, damit die Ebene erholsam und beflügelnd sein kann. Die Wertschätzung des Wanderns in der Ebene entsteht durch das Wissen um die Anstrengung einer Bergbesteigung.
Solange die Erinnerung an die Beschwerlichkeit des Berges existiert, profitiert das Gehen in der Ebene.
Wären wir Bergziegen oder Felswallabys und Felsbrocken und Klippen unser natürliches Habitat, wäre unser Klettern daran alltäglich – weder bemerkenswert, noch so anstrengend wie für den aufrechten Zweibeiner.
Licht & Schatten
So wie Berge und Täler einander definieren, benötigen sich auch Dunkelheit und Licht für ihre gegenseitige Existenz.
„Sowohl Licht als auch Schatten sind der Tanz der Liebe“ – Rumi, Mystiker (1207–1273).
Die Dunkelheit wirkt nur unheimlich, wenn der Blick ins Licht die kontrastierende Dunkelheit düsterer erscheinen lässt, als sie ohne den Vergleich erscheinen würde. Aus dem beleuchteten Haus sieht die Nacht viel schwärzer aus, als draußen auf dem Feld oder inmitten einer Waldlichtung, wo Mond und Sterne den Pfad beleuchten.
Nur weil die Sonne heller leuchtet als der Mond, ist die Nacht nicht zwangsläufig dunkel. Die Nacht bringt ihre eigene Leuchtkraft mit sich. Wenn der Mond sich ziert, sich zu zeigen, führt es nur dazu, dass die Sterne umso heller erscheinen. Man kann nur sehen, was eine Chance erhält, gesehen zu werden. Je länger die Dunkelheit währt, desto mehr Chancen des Sehens eröffnen sich dem geduldigen Auge, das Zeit besaß sich zu adjustieren.
Die Relevanz des Sehens – im physischen, wie im auf die Wahrnehmung des Lebens übertragenen Sinn – ist dadurch gezeichnet, dass was wir gewöhnt sind zu sehen, die individuelle Art die Welt zu betrachten beherrscht. Daher ist es so gefährlich immer nur dasselbe zu sehen oder nicht „alles“ oder zumindest vieles zu sehen.
Die Schönheit der Dunkelheit zum Beispiel kann nur sehen, wer in der Lage ist, die Angst zu überwinden, sich vom Licht zu entfernen. Man muss darauf vertrauen, dass einige Nächte vielleicht länger währen als andere, aber keine von ihnen ewig andauert.
Geht der Mond ungehindert von Störlichtern und düsteren Wolken am Himmel auf, sind weder das Leben noch die Nacht furchteinflößend.
Ein klarer Mond hilft der Klarheit der Seele.
Erfahrungen
Erfahrungen haben keine ihnen intrinsische Bedeutung – „sie sind, was sie sind“ – ihre Bedeutung erhalten sie durch unsere an sie vergebenen Interpretationen und Erklärungen für ihre Existenz. Der Wert, den wir Erlebnissen verleihen, bestimmt, wozu ihr Eigenleben, das wir ihnen einhauchen, wird. Die Erinnerung unserer Erfahrungen und der damit verbundene erdachte Sinn unserer Erlebnisse macht uns zu der Person, für die wir uns halten und wie die wir uns verhalten – oder denken, uns verhalten zu müssen.
Unsere Lesart entscheidet über Interpretation und Bedeutung der Vergangenheit. Dabei steht die Wahl zwischen einer Sichtweise, die durch das Verständnis von Schmerz eine Verbindung mit der Welt schafft, und einer, die die Abkehr von der so wahrgenommenen feindlichen Außenwelt bewirkt, wodurch Isolation und Abgeschiedenheit in den Vordergrund der gesamten Erfahrungswelt rücken.
Die Gewissheit, dass kein Mensch außerhalb seiner gaukelnden Gedanken mit seinem Leid wirklich allein sein kann, weil jeder irgendwann irgendwie unweigerlich leidet, verbindet das einsame Schicksal des Einzelnen mit denen Milliarden anderer. Ich wäre mir sicherer, weniger allein auf der Welt zu sein, wenn ich im Unglück versänke, als bei der Erfahrung des größten Glücks. Das Erkennen dieses Netzes geheimen Leids, welches die Welt umspannt, macht mich Teil von allem lebendigen, atmenden und fühlenden auf der Erde und verleiht mir mehr Kraft als ein einsamer Höhenflug, weil es erklärt, woher die Sehnsucht nach Schönheit und Leichtigkeit kommt, die alle Menschen vereint und sie bei Erhalt mit Erleichterung beglückt – eine alle vereinende Erleichterung durch das Spüren von Freiheit. Nichts lebendes kann frei von Schmerz sein. Aber wir haben immer Momente von Freiheit.
Obwohl sich jedes Schicksal vom nächsten unterscheidet, haben sie die Gemeinsamkeit, sich aus der Gesamtheit menschlicher Erlebnisse zusammenzusetzen. Wir auf diese Art robust geformten einzelnen Wesen erfahren Trauer, Leid und Unglück als notwendige, dem Leben intrinsische Kontraste für die hellsten und fröhlichsten Farben auf der Leinwand der lebenden Existenz, ohne die keine noch so gute Erfahrung in der Lage wäre in ihrer Schönheit zu leuchten und glänzen, zu flimmern und schimmern.
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©2022 Hannah Knaack-Völker
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