Das Verschwinden von Adam Dream

Von Johannes Morschl

Adam Dream, ein in Berlin lebender US-Amerikaner, war verschwunden. Er stammte aus einer Millionärsfamilie, was man ihm aber nicht ansah, denn er lief immer in alten abgewetzten Jeans und zerknitterten Hemden herum und trug schulterlanges Haar. Er sah aus wie ein Alt-Hippie. Er war über vierzig Jahre alt, unverheiratet und kinderlos, ein Einzelgänger, der Shortstorys schrieb und dessen Hobbys die Ethnologie und Reisen in die entlegensten Gegenden der Welt waren, die er meist ohne Begleitung machte. Ich hatte ihn bei einem Leseabend einer offenen Lesebühne kennengelernt, wo mehrere Autorinnen und Autoren eigene Prosatexte und Gedichte vortrugen, darunter auch er und ich. Er lud mich dann ein paarmal zu sich in seine Eigentumswohnung am Chamissoplatz in Kreuzberg ein und wir wurden Freunde, was für mich eigentlich eine Auszeichnung war, da er ansonsten ziemlich menschenscheu war und keine anderen Freunde hatte. Mir war es auch als einzigem aufgefallen, dass er verschwunden war, da ich ihn nicht mehr erreichen konnte. Zuerst hatte ich mir nichts Besonderes dabei gedacht, nur dass er vielleicht zu seinen noch lebenden Eltern in den USA geflogen war. Als er aber auch noch nach mehreren Monaten nicht mehr erreichbar war, kam mir das dann doch sehr merkwürdig vor und ich wandte mich an die Polizei. Die Polizei kontaktierte über die US-amerikanische Botschaft seine Eltern, die in Miami wohnten, aber bei ihnen hatte er sich auch seit Monaten nicht mehr gemeldet und sie machten sich schon langsam Sorgen, obwohl er sich auch sonst nur selten bei ihnen meldete. Daraufhin wurde sicherheitshalber die Kripo eingeschaltet, die seine Wohnung am Chamissoplatz öffnete und durchsuchte, jedoch keinen Hinweis auf sein Verschwinden fand. Man fand allerdings einen Haufen loser Blätter Papier mit handschriftlichen Aufzeichnungen, las sie durch, aber es schien sich nur um Entwürfe für seine Shortstorys zu handeln. Die Kripo wandte sich an mich, da ich sein einziger Freund in Berlin war und mich auch mit seiner Schriftstellerei auskannte, und bat mich, mir die Aufzeichnungen durchzulesen. Vielleicht könnte ich in ihnen einen Hinweis auf sein Verschwinden finden.

Beim Durchlesen der handschriftlichen Aufzeichnungen Adams stieß ich auf drei Blätter mit einem Inhalt, der mich stutzig machte. Ich glaubte nicht, dass es sich dabei um einen Entwurf für eine Shortstory handelte, sondern dass sich diese Aufzeichnungen auf reale Erlebnisse auf einer Reise bezogen, die Adam vor nicht allzu langer Zeit gemacht haben musste und von der er niemandem erzählt hat, auch mir nicht. Diese Aufzeichnungen ließen viele Fragen offen, vor allem in welches Land er da gereist war. Auch schienen einige Aufzeichnungen über die Reise zu fehlen, zum Beispiel der Anfang und dann auch Beobachtungen und Erlebnisse zwischendurch, da die Aufzeichnungen nicht zusammenhängend waren.

Aufzeichnungen auf dem ersten Blatt: „Ich war überrascht, in diesem dichten Wald auf eine Lichtung zu stoßen, auf der sich mehrere mit kleinen Steinen bedeckte Erdhügel befanden. Es handelte sich eindeutig um eine Gräberstätte. Da sah ich auf einmal am Waldrand eine Frau in einem ockerfarbenen sackartigen Kleid. Kaum hatte sich mich erblickt, verschwand sie blitzschnell im Wald. Ich ging zu der Stelle, wo sie verschwunden war, und fand einen schmalen Pfad, der in den Wald hineinführte. Vorsichtig ging ich den Pfad entlang und gelangte zu einem Dorf auf einer großen Lichtung mitten im Wald, das aus einfachen Holzhütten mit moosbedeckten Dächern bestand, die kreisförmig um einen freien Platz angeordnet waren. In der Mitte des Platzes stand ein Totempfahl, auf dessen Spitze sich der stilisierte Kopf eines Wolfs mit übergroßen Augen befand. Der Wolf war offensichtlich das Totemtier der hier lebenden Menschen, in dem sie vermutlich ihren Urahnen sahen und ihm besondere Kräfte zuschrieben. Das Dorf war wie ausgestorben. Ich hatte aber das Gefühl, aus den Hütten beobachtet zu werden. Nach einiger Zeit kamen Frauen und Männer, gefolgt von Jugendlichen und Kindern, aus den Hütten und umringten mich. Am meisten aber erstaunte mich, dass Wölfe aus dem Wald kamen, die ohne jede Scheu auf dem Platz herumliefen und vor denen sich niemand fürchtete, ja ganz im Gegenteil, die Dorfbewohner und die Wölfe schienen ein vertrautes Verhältnis miteinander zu haben, was ich als äußerst ungewöhnlich fand. So etwas hatte ich noch auf keiner meiner bisherigen Reisen erlebt und kenne es auch nicht aus der ethnologischen Literatur oder einem Reisebericht, und ich habe sehr viel über die Sitten und Gebräuche von früher als Wilde und Primitive bezeichneten Naturvölkern gelesen.“

Hier dürften ein Blatt oder mehrere Blätter fehlen. Auf dem nächsten vorhandenen Blatt geht es folgendermaßen weiter: „Ich saß auf einem der entrindeten Baumstämme, die vor den Hütten lagen, und dachte über das Verhältnis der Geschlechter in dem Waldvolk nach. Die Frauen waren eindeutig das dominante Geschlecht. Wie einst Bronislaw Malinowski bei den Trobriandern bin ich hier offensichtlich auf ein Volk gestoßen, das matrilinear organisiert war und in dem die Männer, mit denen die Frauen zusammenlebten, nicht als die Erzeuger der Kinder galten, sondern die Vorstellung vorherrschte, dass die Kinder ohne Zutun eines Mannes im Bauch einer Frau entstanden. Die Verwandtschaftslinien gingen ausschließlich auf Frauen zurück, die Männer spielten dabei nur eine untergeordnete Rolle. Auf einmal stellte sich eine etwa 40-jährige Frau, die hier zu den Ältesten gehörte, direkt vor mich, hob ihr Sackkleid und hängte es über mich. Sie war darunter splitternackt. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, und wartete unter ihrem Kleid ab, was weiter geschehen würde. Da hörte ich die Stimme einer anderen Frau. Die beiden Frauen schienen über etwas zu verhandeln. Im Nachhinein wurde mir klar, dass sie über mich verhandelt hatten, denn als sie mit ihrem Gespräch zu Ende waren, holte mich eine Frau, die ziemlich dick und kräftig war, aus dem Kleid der anderen hervor, wobei beide Frauen schallend lachten. Überhaupt wurde hier viel gelacht. Die Dicke zog mich glucksend vor Lachen in ihre Hütte und redete in der Sprache ihres Volks auf mich ein, die ich höchst interessant fand, da sie aus Doppelwörtern bestand, deren Bedeutung ich nicht verstand und nur erraten konnte. Die Dicke sagte zu mir: ‚Rixl-raxl, harudl-haradl, skri-skri.‘ Dann zog sie mich nackt aus, schubste mich auf ihr mit Tierfellen bedecktes Bett, das aus mehreren übereinander gelegten, geflochtenen Matten bestand, hob ihr Sackkleid und bestieg mich. Ich konnte mich ihr nicht verweigern, denn das hätte als grobe Unhöflichkeit gegolten und mir nur Troubles eingebracht. Nach einiger Zeit ließ sie von mir ab und holte eine rothaarige Frau herein, die sich in Begleitung eines lallenden, die Augen verdrehenden jungen Mannes befand, der, wie sich später herausstellte, der Bruder der Rothaarigen war. Die Rothaarige bedeutete mir mit Gesten, ihm meine Hände aufzulegen. Ich legte ihm instinktiv meine linke Hand auf den Kopf und meine rechte Hand auf den Solar Plexus. Der junge Mann wurde tatsächlich ruhiger und verdrehte nicht mehr die Augen. Daraufhin küsste mich die Rothaarige auf Stirn und Nasenspitze. Ich glaube, dass sie bei mir die schamanistische Fähigkeit vermutete, einen bösen Geist aus einem Menschen vertreiben zu können. Seit diesem Ereignis musste ich in der Hütte der Rothaarigen schlafen. Ihr Name war Timt-timt. In den Nächten machte sie mit größter Selbstverständlichkeit Liebe mit mir, lachte viel dabei und flüsterte mir öfters ‚glixi-glixi‘ zu. Bald kam ich nicht umhin, mir einzugestehen, dass ich mich in sie verliebt hatte.“

Dann dürften wieder einige Blätter fehlen. Es folgen die Aufzeichnungen auf dem dritten Blatt: „Eines Tages gab es ein großes Fest. In der Nacht davor hatte Timt-timt mich anders als sonst geliebt, irgendwie dramatischer. Das Waldvolk versammelte sich auf dem Dorfplatz und gruppierte sich im Kreis um den Totempfahl herum, wobei man mich äußerst zuvorkommend behandelte. Große hölzerne Schüsseln mit einem breiigen, süßlichen Gericht wurden herumgereicht, und dazu trank man einen gegorenen Saft, der leicht bitter schmeckte, in den Kopf stieg und benebelte. Einige Erwachsene kauten getrocknete Pilze. Mir wurden sie auch angeboten, was ich nicht ablehnen konnte, aber ich kaute sie nicht, sondern legte sie beiseite, da ich vermutete, dass sie eine halluzinogene Wirkung hatten. Dann geschah etwas für mich vollkommen Unverständliches, Ungeheuerliches. Zwei Frauen und zwei Männer packten mich plötzlich und banden mich mit Stricken, die aus Pflanzenfasern gedreht waren, an den Totempfahl. Einige Frauen und Männer begannen um mich herumzutanzen. Dabei imitierten sie das Heulen von Wölfen. Die Zuschauer klatschten dazu rhythmisch mit den Händen und heulten mit. Dann tauchten Wölfe auf, die aus dem Wald kamen. Es schien sich um dasselbe Rudel zu handeln, das ich bei meiner Ankunft im Dorf gesehen hatte. Die Wölfe begannen an mir herum zu schnuppern. Ich dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen und die Wölfe würden mich tot beißen. Doch es kam ganz anders. Es war geradezu unglaublich! Die Wölfe bissen meine Fesseln durch, sodass ich wieder frei war. Das Waldvolk war begeistert, und als Timt-timt laut zu lachen begann, lachten auch alle anderen und bekamen sich gar nicht mehr ein vor Lachen. Nur mir war es alles andere als zum Lachen zumute. Ich lief in Panik zur Hütte von Timt-timt, stopfte das Notwendigste in meinen Rucksack und floh so schnell ich konnte in den Wald. Ein Wolf lief mir nach und begleitete mich ein Stück weit, was mir nicht ganz geheuer war. Ich glaube aber, er wollte mich beschützen und sicher aus dem Wald herausführen. Als ich schließlich wieder in meiner von blindwütiger Selbstsucht und gnadenlosem Konkurrenzkampf zerrütteten sogenannten zivilisierten Welt angelangt war, konnte ich nicht mehr froh werden. Schon nach zwei, drei Tagen überkam mich eine tiefe Sehnsucht nach Timt-timt. Ich ertappte mich dabei, Selbstgespräche in der Sprache des Waldvolks zu führen: ‘Tawadl-tiwadl, kurra-kurra, rixl-raxl, harudl-haradl, skri-skri, glixi-glixi‘, usw. Meine Mitmenschen in der sogenannten zivilisierten Welt waren mir fremder denn je geworden.“ Und am Ende dieser dritten Aufzeichnungen steht geschrieben: „Mich hält nichts mehr hier. Ich will zu Timt-timt und ihrem Volk zurück.“

Nachdem ich dies gelesen hatte, wurde ich nachdenklich. Wenn Adam von Wölfen vom Totempfahl befreit wurde, kann man davon ausgehen, dass diese Dorfwölfe daran gewöhnt waren, jene Personen, die sie sozusagen gut riechen konnten, vom Pfahl zu befreien. Es ist unwahrscheinlich, dass sie ihn anderenfalls totgebissen hätten. Wölfe töten normalerweise keine Menschen. Wären die Wölfe, ohne Adams Fesseln durchzubeißen, wieder weggelaufen, so hätte das vermutlich nur bedeutet, dass er kein vollwertiges Mitglied des Waldvolks werden könne und mit keiner Frau aus dem Waldvolk zusammenleben dürfe. Ich bin der festen Überzeugung, dass Adam, der ein großes Wissen über die Sitten und Gebräuche von sogenannten Naturvölkern hatte, im Nachhinein auch auf diese Idee gekommen war. Ebenso bin ich der festen Überzeugung, dass Adam zu dem Waldvolk zurückgekehrt ist, dort vermutlich als einer der ihren aufgenommen wurde und jetzt glücklich mit Timt-timt zusammenlebt. Ich teilte dies den Kripo-Beamten mit und fügte hinzu, dass ich es für sinnvoller hielte, die Suche nach Adam Dream wieder einzustellen.

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© 2022 Johannes Morschl
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