Der Andere löst mich in Luft auf

Von Michael Wiedorn

Ich bin stumm. Ein Stummer ist toter als eine Leiche. Ich bin weniger als ein flüchtiger Luftzug. Ich schreibe. Ich spreche. Das Gegenüber vernimmt nur ein bedeutungsleeres Rauschen. Ich meine von Gestalten zu erzählen, von Ereignissen zu berichten, Gedanken und Gefühle auszudrücken. Ich blicke in die leeren Augen meines Zuhörers – oder besser ausgedrückt meines teilnahmslosen Beobachters. Ich fühle mich wie ein von aller Absicht und allem Antrieb baren Behälter. Gegenstände haben kein Innenleben. Höchstens Drähte, Batterien, Treibstoff. Mein Treibstoff besteht aus ekelerregenden Körperausscheidungen. Mein Zuhörer brüllt plötzlich mit zornrotem Schädel: „Das ist ja widerwärtigste Pornographie, was Sie von sich geben! Menschenverachtende Gewaltverherrlichung! Sie sind ein Faschist!“ Einen Bruchteil einer Sekunde flackert sogar etwas wie Erleichterung, vielleicht so etwas wie Freude in mir auf. Normalerweise empfände ich es als ausgesprochen kränkend als Faschist oder als Gewaltpornographen eingeschätzt zu werden, aber solche Unholde sind keine absichtslosen Geräte ohne Sinn und Verstand. Auch hässliche Beweggründe reißen den Bösen aus der toten Dingstarre. Dann erwache ich aus der kurzen Euphorie und frage, wie er zu diesem vernichtenden Urteil kommt. Ganz aufrichtig möchte ich erfahren, wie er zu dieser Ansicht meiner bösen Seele kommt. Es ist mir unmöglich, mich selbst ganz aus mir selbst richtig einzuschätzen. Einsam in meine Kapsel eingeschlossen, halte ich mich leicht für einen Weltenbeherrscher und Gott. Ich bin bedeutungsloser als eine Schmeißfliege. Geringer als ein flüchtiger Luftzug. Ich brauche ein Gegenüber, ich brauche Widerklang, dass ich weiß, dass ich dieser bestimmte Mensch mit bestimmten Eigenschaften und genauen Körpermaßen bin. Hat mein Körper fassbare, messbare Abgrenzungen oder löst er sich irgendwo im Leeren auf? Mein Zuhörer funkelt mich zürnend an und knurrt nur: „Ich habe Ihnen garnicht zugehört. Wie käme ich dazu Ihnen zuzuhören? Ihre Laute rauschen nur an mir vorbei.“ Dieser Mann ist mein Feind, der genau versteht, wie man mich wirkungsvoll verwunden kann. Mit einem Kopfschuss hätte er mir vielleicht nur einen Gefallen getan. Der brutale Schmerz hätte mich zum Sein erweckt. Sofort nach diesem Nichtgehörtwerden und Nichtgesprochenhaben spüre ich, wie sich meine Glieder, mein Rumpf, mein Kopf sich in nichts auflösen. Böse Menschen haben keine Lieder. Böse Menschen haben keine Worte. Ihre Äußerungen sind böse und uneingestehbar. Ein anständiger Mensch vernimmt nur ein sinnentleertes Rauschen. Ich denke, ich erzähle etwas sehr Intimes über mich selbst. Doch meine Worte bedeuten nur Krieg, Mord und Wahn. Der Andere ist im Recht. Der Andere hat recht mich nicht zu vernehmen. Er versteht nur die gute Botschaft von Liebe und Frieden. Können wir uns überhaupt verständigen? Können wir uns einander verstehen? Wir verstehen, was uns immer schon vertraut war. Der Andere soll uns liebe Heimat sein. Man sagt das Allen Heimische und Vertraute und der Andere antwortet Redewendungen, die das allseits Bekannte bestätigen. Unsere Fassaden lächeln sich gegenseitig höflich an. Stecken hinter diesen Oberflächen irgendwelche Personen?

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© 2022 Michael Wiedorn
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