Die Schuld wird ihn einholen

Von Michael Wiedorn

An einem heißen Sommernachmittag läuft Jörg auf dem Bürgersteig an der Hasenheide. Der Park ist berüchtigt für seinen Drogenhandel. In vollem Tempo fährt Jörg ein Fahrrad entgegen. Der Radfahrer ist ein Araber, der ihm zulächelt – besser gesagt – zugrinst. Jörg fühlt die Verachtung des jungen, auf seine Jugend und seine Männlichkeit stolzen Arabers. Der Ältere schämt sich für seinen durch das Alter und wohl auch durch seinen trägen Lebensstil aufgeweichten Körper. Er ist nur ein verkrachter Pseudoliterat und Pseudointellektueller – dürfte so ein arabischer Macho denken – denkt dieser Aufgeschwemmte. Der Radfahrer zielt in schnurgerader Linie, in voller Geschwindigkeit auf den Fußgänger zu. Wer ist der Herr der Straße? – fragt der Junge, fragt Jörg. Jörgs Fleisch ist schutzlos dem stechenden und schneidenden Blech ausgeliefert. Er lässt sich nicht beirren und läuft ohne auszuweichen weiter. Beide treffen aufeinander. Sie starren sich Auge in Auge kampfbereit an. Jörg fühlt, wie seine Augen langsam tränen. Er ist körperliche Auseinandersetzungen nicht gewohnt. Der Radfahrer geht noch bis zum letzten Moment davon aus, dass dieses Weichei ihm ausweichen wird. Wahrscheinlich im allerletzten Augenblick. Das Rad streift sein Opfer und scheint kurz das Gleichgewicht zu verlieren. Der Ausländer brüllt etwas, was Jörg nicht versteht. Der Angerempelte lässt es darauf ankommen. Sein Herz rast und erwartet jeden Moment, das eine geballte Faust ihm brutal den Schädel zerschmettert. Seine Vorstellungskraft lässt ihm schon die Schädelknochen zerbersten. Das Rad fährt schon weiter und er spürt in sich den Jubel des Sieges. Er ist nicht ausgewichen. Er nicht. Der Unbesiegte geht weiter zur Ampel, bleibt stehen und wartet bis es grün wird. Plötzlich knallt ihm etwas mit aller Wucht gegen den Kiefer. Es ist ihm, als wäre sein Kieferknochen gegen einen Betonpfeiler geknallt. Zwei vor Hass funkelnde Augen starren ihn an und radeln schleunigst davon. Dem Araber ein Schimpfwort nachzurufen, kommt dem Verletzten gar nicht in den Sinn. Sein Kopf ist vollkommen leer und er spürt außer dem brennenden Kinn auch noch ein Strömen aus der zerbrochenen Nase. Er hat sein Gesicht verloren.
Jörg ist bald siebzig, ist aber nie im Erwachsenenleben heimisch geworden, obwohl er ökonomisch abgesichert ist. Er hat von seinen Eltern ein heruntergekommenes Mietshaus in einer Kleinstadt geerbt. Er ist nicht reich und kann sich keine Reisen und keinen Luxus leisten. Immer wieder hat er Mieter, die keine Miete zahlen und die Wohnung vermüllen lassen. Jörg muss dann hinfahren, die Wohnung auf seine Kosten zwangsräumen lassen, auf seine Kosten säubern lassen. An den Wänden prangen Scheißefladen und in den Fußboden sickert die Pisse. In diesem Haus leben Mieter, die nirgends eine andere Unterkunft finden können. Von hier aus geht der Lebensweg abwärts auf das kalte Straßenpflaster ohne Dach oder unter die Erde auf dem Friedhof. Eine verlebte Säuferin mit eingefallenem Mund – das Sozialamt weigert sich ihr ein Gebiss zu zahlen – die Haut mit schwärenden Ausschlägen verunziert, meckert und geifert, dass Jörg ihr das letzte Geld auspresst. Das Haus wäre doch nur mehr eine Ruine. Das Dach ließe den Regen eindringen. Im Keller stiege das Wasser in die Höhe. Die Feuchtigkeit im Hause durchdringe und fräße ihren schon hinfälligen Kadaver. Ihre Glieder seien schon wegen seiner Gier ganz krumm. Der Hausschwamm und der Hass fressen sie von innen her auf. Der Angeklagte hört ihr angeekelt zu und schämt sich seines Ekels gegen einen Menschen, von dessen kargem Einkommen er sich schließlich nährt.
Die Rumänen – Sinti und Roma – zahlen seit vier Monaten keine Miete mehr. Jörg klingelt an ihrer Türe, um die fälligen Mieten einzufordern. Fünf ganze rückständige Mieten. Nichts rührt sich. Jörg steht etwas ratlos im Treppenhaus. Etwas in ihm ist erleichtert, da niemand öffnet und will ihn dazu drängen aus dem Haus zu eilen. Er wäre dann einer unangenehmen Konfrontation entflohen. Entschlossen klingelt er jetzt bestimmter und lauter. Er hat schließlich laufende Unkosten für das Haus, die er pünktlich begleichen muss. Nach kurzer Zeit hört er ein zages Kratzen hinter der Türe, dann wieder Stille. Die Türe öffnet sich und der Familienvater – ein beleibter Mann um die Fünfzig – strahlt ihn fast freundschaftlich an. „Ja, bitte?“ Jörg entschuldigt sich für die Störung. Ja, er falle seinem Mieter sicher zur Last. Seine Rede stockt und stottert. Der Eindringling empfindet jetzt seine Stimme als sehr dünn und brüchig. Im Hintergrund der Wohnung öffnet sich eine andere Türe. Jörg unterbricht seine Ansprache. Es erscheint ein etwa zwanzigjähriges Mädchen. Wohl die Tochter des Hauptmieters. Ihr sanfter, verträumter Blick verzaubert den Fremden. Sie ist ein Kätzchen, dessen weiches Fell die Männer gerne streicheln würden. In Jörg keimt die aussichtslose Hoffnung auf, dass sich das Mädchen in ihn verlieben könnte. Warum auch nicht? Ist er denn so verfallen und alt? Der Vater öffnet die Wohnungstüre weit auf, weist mit dem ausgestreckten Arm einladend ins Wohnzimmer. „Möchten Sie mit uns ein Gläschen trinken?“ Der Eingeladene sagt nicht nein und betritt nach den beiden Bewohnern die gute Stube. Sie sitzen zu Dritt im Wohnzimmer. Der Vater erzählt von seiner Heimat und der Gast und die Tochter blicken sich verzückt an. Jörg ist es manchmal, als würfe der Vater dem Mädchen einen berechnenden Blick zu. Jörg scheint es dann, dass es ihrem Erzeuger leicht zunickt. Jörg weht dann einen Bruchteil einer Sekunde ein eisiger Hauch an, der gleich wieder verweht. Er schämt sich, dass er die Gastfreundschaft mit seinem Misstrauen beschmutzt. Er taucht wieder in ihre Augen ein. Jetzt über Geld zu sprechen, erscheint ihm geschmacklos.
Nachts bekommt er immer wieder Anrufe. Nimmt er ab und ruft:“ Wer da?“ – hört er nur ein mühseliges Atmen. Der Unbekannte wartet und wartet ziemlich lange am anderen Ende der Leitung. Nur zweimal brüllte eine ausländisch klingende Stimme: „Schwuchtel!“ und der Anrufer brach das Gespräch ab. Der Gegner hatte jetzt eine zumindest hörbare Stimme und Jörg fühlte weniger Angst, sondern eine ungeheure Wut stieg in ihm auf. Das Blut stieg ihm in den Kopf. Er schlug und prügelte in die Fresse des Fremden. Der Fremde stellt sich ihm immer wieder entgegen. Der Feind. Du sollst den Feind lieben! Feindesliebe! Jörg ist gläubiger Katholik. Wenn niemand antwortet, sondern nur eine namen- und gesichtslose Drohung aus dem Telefon strömt, packt Jörg eine panische Angst vor dem Gespenstischen.
Manchmal scheint ihm, dass vorüberfahrende Autofahrer auf der Straße ihm Zeichen geben. Mit einer Hand fahren sie über ihren Kehlkopf und grinsen Jörg hämisch an, als würden sie ihm gerne die Kehle durchschneiden. Sieht das Jörg wirklich oder hat er Wahnvorstellungen? Es sind meistens dunklere Ausländer, deren Gegenwart ihn bedroht. Ja sicherlich! Er sieht nur blitzschnell ein Gesicht im Schatten. Dunkle Gesichter unter Kapuzenpulli stehen oft vor seinem Haus. Der Bedrängte kann von seiner Wohnung aus nicht sehen, worauf die Augen des Feindes gerichtet sind. In seiner Jugend wurde er von einigen Männern argwöhnisch verachtet. Andere versuchten mit ihm zu flirten. Er trug als Jugendlicher wie damals alle schulterlanges Haar. Er sah so mädchenhaft aus, obwohl ihn immer Frauen anzogen. Die allzu enge Nähe zu Männern ekelte ihn. In der Disco stand er ratlos herum. Die Frauen sahen in ihm eine der ihren – eine Konkurrentin – wären aber nie auf die Idee gekommen in ihm einen Liebhaber zu sehen. Sie behandelten ihn mit der Freundlichkeit, mit der sie mit Schwulen verkehrten.
Einmal ist er ganz erschüttert und zu tiefst beleidigt. Er hatte zuvor ein Treffen mit einer jungen Frau. Er erzählt, sie blickte auf seinen Anzug, auf seinen schuppenverzierten Kragen und verzog ekelerregt ihr Gesicht. Sie starrte auf die zahlreichen Schuppen, die sich wie toll gewordene Würmer oder Ameisen auf seinem Kragen tummelten. Schuppen sind abgestorbene Hautstücke, die käsig bleich wie geriebener Käse sind. Jörg trägt immer einen dunklen Konfektionsanzug wie ein altmodischer Studienrat. Der Anzug ist nie elegant, sondern immer etwas schmuddlig. Diese Kleidung unterstreicht seine betont konservative Lebenseinstellung. Auch im heißesten Hochsommer verpackt er möglichst luftdicht den Kadaver, den jeder Sterbliche gezwungen ist, durch seine irdische Existenz zu schleppen. Das junge Mädchen musterte den Anzug. Blieb mit ihrem strengen Blick noch an dieser oder jener Stelle hängen und sah ihm dann frontal ins Gesicht. Sie brauchte weiter nichts zu sagen. Jörg roch das abgestandene Miefeln, der von seinem leblosen Fleisch ausgeht. Das Fleisch ist Dreck. Es ist Schmutz. Die unreinlichen Ausscheidungen setzen sich an den Stoffen seiner Kleidung fest. Er blickte in das strenge, schöne Gesicht der jungen Frau. Ihre blauen Augen strahlten voller Reinheit. Die Frau in ihrer Strenge und Unerreichbarkeit. Jörg bemühte sich die Tränen, die ihm in die Augen treten wollten, zurückzuhalten. Er war zu keinem aufbegehrendem Zorn fähig. Einzig eine grenzenlose Trauer erfüllte ihn und die Scham für für sein schmutziges Fleisch. In der Fleischtheke beim Metzger liegt träges Fleisch, das nur da ist. Der edelste Mensch wird allein durch sein physisches Dasein zum stinkenden Schwein erniedrigt.
Jörg schreibt autobiographische Texte und Kurztexte. Er schreibt seine Erinnerungen auf. Seine Kindheit und Jugend. Jeder Mensch erlebt mit der Vertreibung aus der Kindheit die Vertreibung Adam und Evas aus dem Paradies immer wieder nach. Das Schreiben beschwört wieder den Tante-Emma-Laden nahe seines Elternhauses ins Leben zurück, in dem die alte Frau Krause, die freundliche, kinderliebe Geschäftsinhaberin, die jetzt schon lange unter der Erde ruht, den Schulkindern manchmal eine Tafel Schokolade zusteckte. Beim Schreiben lächelt ihm ihr längst verstorbenes Gesicht wieder zu. Der Laden lag in einem verfallenen, einstöckigen Haus mit großem Giebeldach, das schon in den Siebziger Jahren einem Wohnblock weichen musste. Die Leute kaufen heute bei Lidl und Aldi ein.
Jörg schreibt über Weihnachten, das er mit seinen Eltern als Kind erlebte. Der im Kerzenschein strahlende Christbaum. Die Kinder warteten bei von Schallplatten abgespielten Weihnachtsliedern, bis die Klingel erschallte und sich die Türe zur Stube öffnete, wo der vom lieben Christkind persönlich gebrachte Christbaum stand und darunter die Bescherung.
Jedes Jahr am Heiligen Abend hat das Christkind sich bis zur völligen Erschöpfung abzustrampeln. Für die Theologie müsste es eine interessante Frage sein, wie oft schon das Christkind unter den Lasten verendet und wiederauferstanden ist.
Jörg liest in seiner Literaturgruppe, die er einmal im Monat besucht, ganz selten etwas vor. Ist es, weil er sein Innerstes und Intimste nicht dem kalten Blick und dem Urteil anderer Leute ausliefern will? Er hasst dieses herum Psychologisieren, diese Betonung des Krankhaften und Pathologischen in unserer Zeit. Jeder Mensch sucht die herzenswarme Umarmung der Heimat. Die Heimat umschließt ihr Kind luftdicht gegen die Kälte der stürmischen Außenwelt. In einem Fach des Kleiderschrankes liegen noch seine Plüschtiere und einige Puppen aus seiner Kindheit. Manchmal zieht es ihn dazu, den Schrank zu öffnen und er nimmt den Teddy in den Arm wie eine säugende Mutter. Er ist wieder der kleine Junge, der er war. Die Pubertät zieht die Kinder in den Dreck. Sie entstellt und demütigt und verroht Kinder. Es würde ihn nicht wundern, wenn sich die Türe öffnen würde und seine längst verstorbene Mutter in junger Gestalt eintreten würde und ihm, wie sie es oft tat, über das Haar streichen würde. Jörg weiß, dass sich die Türe nie öffnen und sich die Toten in jugendlicher Gestalt aus dem Grab erheben werden. Das Erwachsensein droht hinter ihm wie das Eisengitter hinter dem Zuchthäusler. Die unermessliche Trauer, die ihn dann übermannt, lässt ihm die Tränen in die Augen schießen. Das Herz schmerzt ihn und der Stich lässt es kurz still stehen. Gevatter Tod schnuppert kurz an Jörgs Organen. Er fällt ohne Bewusstsein in ein tiefes Loch, das ihm eine Vorahnung der unendlichen Abwesenheit gibt. Alle Koordinaten, die der Welt feste Konturen und Strukturen geben, brechen zusammen. Er erwacht wieder und hätte beinahe so etwas wie eine Erfahrung gemacht. Einige Wochen lebt er in der Furcht jeden Moment von der endgültigen Leere verschluckt zu werden. Er erträgt das ständige Bewusstsein unter einem Damoklesschwert zu leben nicht mehr. Wie kann man mit einer geladenen Waffe im Genick irgendetwas für die Zukunft erwarten. Es wird immer die gähnende Leere siegen!
Es gelingt ihm die Kunst, diese kurze Begegnung mit dem absolut Beunruhigenden und Verstörenden aus seiner Erinnerung zu jagen. Er vergisst einfach seinen Flirt mit dem Tod. In seinem Bewusstsein bleibt nicht der geringste Funken einer Erinnerung. Glücklich ist, wer schnell vergisst!
Die Texte, die die Anderen in der Gruppe lesen, unterfordern ihn intellektuell. Mein schönster Schulausflug. Hausfrauenliteratur. Pennälertexte. Er hat Literaturwissenschaft studiert. Er hat einen betont konservativen Geschmack. Goethe, Mörike, Hermann Lenz. Er ist jetzt alt und es wird immer klarer, dass er nie veröffentlichen wird. Seine nicht so zahlreichen Texte werden nach seinem Tod im Müll verschwinden. Er wird nie existiert haben. Die gähnende Abwesenheit wird immer siegen! In gereiztem Ton rezensiert er die anderen Texte als studierter Fachmann, der im Gegensatz zu den Anderen sich in Weltliteratur, klassischer Schulphilosophie, Germanistik ausgezeichnet auskennt. Er sitzt mit bitterer Miene am Tisch, als würde er sich hier völlig deplatziert fühlen. Ein Fremder unter den Menschen. Seine weißen Augenbrauen kräuseln sich und seine sanfte Stimme klingt immer klagend. Er ist ein Original, das nun so ist, wie es ist. Man ist nett und freundlich zu ihm. Ein Sonderling. Man munkelt hinter seinem Rücken. War er vielleicht in der Psychiatrie? Andere verachten und hassen ihn. Der Hass wird ihn ereilen. Seine Schuld wird ihn ereilen. Die nächtlichen Anrufe. In einer Berliner Wohnung wird ein älterer Herr tot aufgefunden. Mehrere Schusswunden. Mehrere Stichwunden. Übertötung.
Er hat eine eigene Literaturgruppe, die meistens nur aus ihm und mir besteht. Ich fühle mich wieder als kleiner Schuljunge. Deutscher Aufsatz. Bekomme ich heute eine gute Note? Er liest meinen Text sorgfältig in vollkommener Stille. Er streicht mit einem roten Kugelschreiber etwas an. Fehler! Falsches Präteritum. Unpassender Konjunktiv. Schlechter Ausdruck. Jetzt ist er mit der Korrektur fertig. Ich blicke gespannt und nervös zur Respektsperson. Ich bin sein Schüler und er hilft mir, wenn ich brav lerne, irgendwann Erfahrungen sprachlich auszudrücken. Er gibt mir meine Sprache und ich werde ihm dankbar sein müssen. Ob ich siebzehn bin oder achtzig, ich bereite mich fürs erwachsene Leben vor. Vielleicht wird man mir so etwas wie Mitteilung von eigenen Gedanken und Gefühlen zutrauen. Aus einigen Äußerungen von ihm darf ich schließen, dass er mich für halbwegs intelligent und belesen hält. Ja, dieser Text rezipiert den Gedanken des „Letzten Menschen“ bei Nietzsche. Ja, dieser Text steht in der Nachfolge des „Ulysses“. Er meint Stolz in meinen Augen aufblitzen zu sehen.
Jörg fordert die in Maßen und Zahlen fassbare Wirklichkeit. Auf der rational berechneten Erdkugel ist kein Platz für die gefräßige Abwesenheit. Die Welt ist vollgestellt mit dichten, für Hände berührbaren Gegenständen. In einem noch so dunklen Keller kann niemand in die Leere fallen, wenn er dicht mit Sperrmüll vollgestopft ist. Keine Angst! Niemals Angst haben! Phantasien, Träume sind Einfallstore für die Leere. Sie räumen einfach den Sperrmüll in der vollgestellten Welt weg um der Leere wieder Raum zu geben. Die Zahl ist die Zahl und gibt den Einzelheiten feste Grenzen. Hier schäumt nichts. Nichts fällt und fällt, sondern steht fest.
Manchmal ist noch Robert als Dritter im Bunde. Robert respektiert Jörg als studierten Mann des Geistes, der Herr Professor mit Examen und Promotion, der in höheren Dimensionen lebt, die uns einfachen Leuten aus dem Volke immer verschlossen bleiben.
Robert ist vorbestraft. Raub und Erpressung. Drogen. Jörg ist die Teilnahme Roberts wichtig. Sehr wichtig! Jörg verreißt Roberts Texte. Altmodisch. Kitschig. Phrasenhaft. Robert akzeptiert die sachkundige Kritik eines Fachmannes. Robert verachtet meine Kritik. Die anmaßende Kritik eines Laien, der es wagt, sich über ihn zu stellen. Habe ich jemals irgendwo studiert? Welche Professur? Wie viele Doktortitel?
Nach Beendigung unserer Sitzung gehen wir zum Griechen um die Ecke. Meistens nur Jörg und ich. Wir handeln die weltpolitische Lage ab. Jörg hat Politikwissenschaft studiert. Er weiß also, wovon er spricht. Verlieren die Menschen die Kontrolle über die Erdkugel? Wird die Welt morgen in großen Katastrophen auflodern? Jörg versteht die Welt. Er erklärt mir die Zusammenhänge und Hintergründe, die der Massenmensch garnicht kennen kann. Nur die Ruhe bewahren! Nur sachte!
Die Massen leben im Dunkel eines undurchschauten und geheimnisvollen Albtraumes. Sie werden von dumpfen Affekten angetrieben. Gespenster und chaotische Medienbilder! Die gähnende Leere wird immer siegen – glaubt die Masse.
Jörg nippt kurz an seinem Glas Wein und lehnt sich zuversichtlich zurück. Er hebt würdig zu sprechen an. Alles in Ordnung! Alles hat seine Ordnung! In der Politik, in der Weltgeschichte zählen genau berechenbare, ökonomische Interessen. Niemand will sich freiwillig schaden. Das sollte man sich klar machen. Die Politiker und die Wirtschaftsführer drehen die Weltkugel als ein ihrer gut geschulten Verstandeskraft unterworfenem Globus. Alles unter Kontrolle! Hat es denn jemals tatsächlich Kriege gegeben? Die Massen in ihrer dumpfen Angst träumen von rohen Massakern, die es noch nie gegeben hat. Kann es jemals sinnlose Vergasungen gegeben haben? Gespenster und chaotische Medienlügen!
Beruhigt trinke ich einen Schluck aus dem Weinglas. Ich fühle mich befreit von meinen hysterischen Ängsten. Es geht alles nach Gottes Plan. Es geht alles seinen vernünftigen Gang.
Durch die Fensterscheibe sehe ich auf der anderen Straßenseite eine dunkle Gestalt mit Kapuzen-T-Shirt, die schon einige Zeit uns anstarrt. Das Gesicht im Dunkel der Kapuze ist nicht sichtbar. Jörg sieht die Gestalt auch und erbleicht. Seit Jahren sind sie schon hinterher. Ausländische Jugendgangs, Junkies, Schatten aus der Nacht.

*

© 2022 Michael Wiedorn
Alle Rechte vorbehalten