Höher und gefährlicher. Mit seinen spektakulären Fotos wollte Ole zum Influencer avancieren und reich werden. Immerhin folgten ihm schon 2000 Leute auf Instagram.
Mit diesem Argument drückte er sich vor den Hausaufgaben und erklärte seine schlechten Noten. Um berühmt zu werden, brauchte er kein gutes Zeugnis. Was zählte, war der richtige Augenblick und ein schneller Finger am Auslöser.
Oles Eltern liebten ihn und widersprachen daher nicht. Selbst die Nachricht, dass er das Schuljahr wiederholen musste, nahmen sie gelassen hin, gaben seinem Flehen nach und schenkten ihm ein Flugticket nach La Palma.
»Pass gut auf«, hatte seine Mutter gesagt. »Geh nicht zu nah ran!«
»Wer nichts wagt, der nicht gewinnt!«, wehrte ihr Sohn die Bevormundung ab.
Allein ging es für den 17-Jährigen auf die kanarische Insel, um Aufnahmen von sich mit dem aktiven Vulkan Cumbre Vieja im Hintergrund zu machen.
Ein Taxifahrer chauffierte ihn zum Ausbruchsort und warnte übertrieben vor den Gefahren. Ole hörte nur mit einem Ohr hin. Sein Englisch reichte ohnehin nicht, um alles zu verstehen. Mit leuchtenden Augen betrachtete er die glutroten Fontänen und sprang aus dem Wagen.
»Vulkane, Feuer des Pluto«, philosophierte er und filmte die Umgebung. Gern gab er sich den Anschein von Bildung. Das schien seinen Followern zu gefallen. Er nahm den Lavastrom und die Überreste des von ihm beschädigten Dorfes auf. Den Selfie-Stick auf sich gerichtet, stellte der Jugendliche sich mit dem Rücken zum Vulkan und grinste in die Kamera.
»Es ist unglaublich heiß«, teilte er seinen Fans mit und trat immer weiter rückwärts.
»Latsch nicht in die Lava«, kommentierte jemand.
»Sehe ich aus wie ein Idiot?«
Die unfreundlichen Antworten ignorierte er, weil die Likes für sein Video ihn ablenkten. Wen störten schon Kommentare wie: »Volltrottel mit Vulkan im Hintergrund«?
Eine gewaltige Explosion zerriss Ole fast das Trommelfell. Standhaft verharrte er, ohne auch nur einen Fußbreit zu weichen. Er rührte sich auch nicht, als Lavabomben durchs Bild spritzten. Hinter ihm brach die Hölle los, und auf seinem Instagramkanal mehrten sich die Likes für sein Reel.
Glutrot sah er einen Ball auf sich zurasen. Schnell gewann er an Größe. Mit diesen Aufnahmen würde sich Oles Leben schlagartig ändern, konstatierte der Teenager euphorisch.
Die Kamera in seiner Hand hielt den Sekundenbruchteil fest, als die Lavabombe traf und sein Gesicht schmolz. Bevor das Gehirn den Schmerz registrieren konnte, war es verdampft.
Das Video ging um die Welt. Millionen ungläubige Menschen schauten dem verwöhnten Jungen zu, wie er sein letztes Selfie schoss.
Ole Müller erlangte Berühmtheit. Mit ihm wurde vor jugendlichem Leichtsinn gewarnt, denn er war nicht der Erste, der sein Leben für ein sensationelles Foto gab. Doch zugegeben, seins war am spektakulärsten.
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© 2022 Sabine Reifenstahl
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