Von Johannes Morschl
Es war in diesem ungewöhnlich warmen Oktober 2022 mit Tagestemperaturen von über 20 Grad Celsius. Lotterschreck war immer mehr verlottert, nicht nur äußerlich, nicht nur, dass er immer seltener unter die Dusche ging und sich immer seltener rasierte, und dass er immer seltener seine Unterhosen, Hemden oder T-Shirts wechselte, nur noch eine alte Blue Jean mit einem Loch über dem rechten Knie trug, seine Waschmaschine verwaisen ließ, schmutziges Geschirr stapelte sich in seiner Küche, auf dem winzige kleine Fliegen herumkrabbelten, und sein Mobiliar und die vielen Bücher in den schwarzen Holzregalen an den Wänden waren mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Auf dem Fußboden in seinem riesigen Wohnzimmer lagen achtlos weggeworfene zerknüllte Papiertaschentücher herum, und den Zustand seines WCs in Bezug auf Reinlichkeit möchte ich hier lieber nicht beschreiben, sonst liest man diese Geschichte nicht mehr weiter, und überhaupt sollte ich mit dieser Beschreibung aufhören, da noch so einiges anderes Ekliges aufzuzählen wäre. Als Wanda noch bei ihm gewohnt hatte, war dies alles vollkommen anders, da war Wanda die Chaotin, die alles liegen und stehen ließ, besonders appetitlich am Boden herumliegende Unterhosen von ihr, die sie wochenlang getragen hatte, und er hatte den reinsten Putzfimmel gehabt, worüber Wanda sich amüsiert hatte, manchmal aber auch richtig stinkig werden konnte, wenn er dauernd den Staubsauger betätigte, gegen dessen Geräusche sie geradezu allergisch war.
Lotterschreck verlotterte nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Es fiel ihm immer schwerer, ins Freie zu gehen und nach seinen geliebten Vögeln, Bienen, Käfern und Ameisen zu gucken, obwohl er ihr Gezwitscher, Summen und Herumkrabbeln vermisste. Er hatte zwar eine beträchtliche Anzahl kleiner Fliegen auf seinem nicht abgewaschenen Geschirr und in seinem vollen Mülleimer in der Küche, den in einer der Mülltonnen im Hinterhof zu entleeren ihm immer schwerer fiel. Aber er schenkte diesen kleinen Fliegen kaum Beachtung. Nur ab und zu beobachtete er ihr Treiben, aber es erheiterte ihn nicht. Aus psychologischer Sicht könnte man von einer schweren Depression sprechen, die ihn überkommen hatte. Er haderte mit dem Schicksal, in diese Welt geworfen worden zu sein. Hätten seine Eltern nicht verhüten können? Musste es unbedingt sein, dass sie ihn haben wollten? Hat ihnen sein älterer Bruder nicht gereicht? Nur weil die Nachbarn im Haus, in dem seine Eltern wohnten, zwei bis drei Kinder hatten und man den Nachbarn keinesfalls nachstehen wollte, musste unbedingt noch ein zweites Kind in die Welt gesetzt werden.
Er dachte nur noch an Flucht, doch wohin sollte er fliehen? Geld genug hatte er ja dank der Erbschaft von seiner reichen kinderlosen Tante. Er könnte sich zum Beispiel locker eine Weltreise leisten. Aber würde das etwas an seinem Zustand ändern? Eigentlich wollte er aus sich selbst fliehen, eine suizidale Stimmung nistete sich in ihm ein, er überlegte, vom Dach irgendeines Hochhauses zu springen, sich vorher mit Alkohol zu betäuben und dann zu springen, unten klatsch und zerschmettert, gerettet aus dem Irrenhaus Menschenwelt. Aber wie sollte er auf das Dach eines Hochhauses gelangen? Das war ja wahrscheinlich gar nicht so einfach, wenn man nicht selber in einem Hochhaus wohnte. Er könnte zwar unten bei irgendeiner Wohnpartei klingeln und sich als Postbote ausgeben. Aber dann müsste er wissen, wie man oben im letzten Stockwerk die Dachluke öffnet. Höchstwahrscheinlich war sie gesichert und konnte nur vom Hausmeister geöffnet werden. Außerdem müsste er eine Leiter mitnehmen, um im letzten Stockwerk zur Dachluke hochsteigen zu können. Und wenn ihn jemand aus dem Hochhaus mit der Leiter sehen würde, so könnte das sofort Verdacht erregen. Man könnte die Polizei alarmieren. Nein, das wäre alles viel zu umständlich und unsicher. Er ließ die verführerische Idee, vom Dach eines Hochhauses zu springen, wieder fallen. Dann überlegte er, eine Überdosis Schlaftabletten zu nehmen, oder sich mit einer Rasierklinge die Pulsadern aufzuschneiden. Aber das mit den Schlaftabletten war ihm zu unsicher. Er könnte überleben und einen schweren Leberschaden von der Überdosis Schlaftabletten davontragen. Und das mit dem Aufschneiden der Pulsadern konnte er vergessen, da er kein Blut sehen konnte.
An einem Sonntagnachmittag Ende Oktober 2022 legte er sich auf die schwarze Ledercouch in seinem großen Wohnzimmer und schlief erschöpft ein, wobei es sich mehr um eine psychische als rein körperliche Erschöpfung handelte…
Da klingelte es plötzlich an seiner Wohnungstür. Er dachte, ob das vielleicht Wanda sein könnte, ja er war sich auf einmal ganz sicher, dass dies nur Wanda sein könnte, denn wer sollte sonst an einem Sonntag bei ihm klingeln. Ein Postbote konnte es jedenfalls nicht sein. Er ging zur Tür und öffnete. Im ersten Moment erschrak er, als er tatsächlich Wanda draußen vor der Tür erblickte. Aber wie hat sie sich verändert! Sie sah jünger aus und hatte große weiße Flügel, wie man sie von Bildern von Engeln her kennt. Sie schwebte wie selbstverständlich in seine Wohnung hinein. Plötzlich hatte sie eine riesige Flasche spanischen Brandy bei sich, führte sie mit beiden Händen an den Mund und trank sie in einem Zug leer. Dann sang sie mit ihrer von ihm so sehr vermissten Kontra-Alt-Stimme, die noch einen Tick tiefer als früher zu sein schien: „Lottischrecki, Schreckilotti, ich bin wieder da, da, da, – da.“ Lotterschreck begann vor Freude zu bellen und wedelte wie wild mit seinem Hundeschwanz, den er auf einmal tatsächlich hatte…
Lotterschreck wachte auf seiner schwarzen Ledercouch auf. Er blickte sich im Raum um, aber da war niemand außer ihm. Es hatte ihm nur geträumt, dass Wanda zu ihm zurückgekommen war. Er wurde traurig, Tränen schimmerten in seinen Augen. Er hatte das Gefühl, der einsamste Mensch auf der Welt zu sein. Am liebsten hätte er sich auf der Stelle in einen Käfer verwandelt.
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