Von Michael Wiedorn
Der Bildschirm zeigt ein Blutbad in irgendeinem von einem Krieg heimgesuchten Land. Von in weiße Laken verhüllten Leichen sehe ich nur die bleichen, von Blutergüssen entstellten Gesichter. Unter der feuerlodernden Sonne löst sich das aufgeschwemmte Fleisch auf. Ich nehme aus der Plastikfolie zwei blassrosa, von der schwülen Sommerhitze feuchte Wurstscheiben, gemustert mit vergilbt talgigen Fettkügelchen. Wir alle sind entsetzt von den Gräueln des Krieges und ich lege mit gelangweilter Hand die von Tierfett glänzenden Scheiben auf das dick mit preiswerter Margarine bestrichene Fabrikbrot. Niemand schneidet mir Scheiben von Bauch oder Schenkel. Niemand entnimmt mir Schmalz oder Fett. Kannibalen müssten vor meiner Schlachtung und dem darauffolgenden Verzehr erst die Körperbehaarung abrasieren. Ein bis auf die Knochen abgemagertes Gerippe streckt seine Totenhand durch das Glas der Mattscheibe mir entgegen. Rote Flecken breiten sich auf meiner Hand aus. Ich denke, dass ich öfters kohlehydratarme Nahrung zu mir nehmen sollte. Ich verfette. Ich versinke in lähmende Behäbigkeit. Ich ernähre mich von Bildern. Von Bildern, in denen Menschen ihren Körper zum Einsatz bringen, in denen sie ihrem eigenen oder fremden Körpern etwas zufügen. Ich weiß, dass ich die Meinung haben sollte, empört über die Verbrechen zu sein, die täglich geschehen. Die Masse ist träge und erbarmungslos. Ein Stück Wurst hat sich in eine Zahnlücke eingezwängt. Ich habe mir schon selbst gelegentlich beim Essen mit meinen scharfen Zähnen ins eigene Mundhöhlenfleisch gebissen. Ein schlagartiger, spitzer Schmerz überfiel mich. Er riss mich gnadenlos in die Wirklichkeit. Ich erwachte. Versehentlich hatte ich mich in ein mir feindliches Raubtier verwandelt, das sich selbst zerreißt und verschlingt. Sehnen sich wirklich alle Menschen nach Frieden und Gerechtigkeit? Wir alle in den Wohlstandsgesellschaften sind gefordert! Mit der Zunge versuche ich vergeblich das Kadaverstück aus der Zahnlücke herauszuzerren. Menschen rennen entsetzt über eine Straße. Ich brauche einen Zahnstocher. Ich erhebe mich vom Fernsehsessel, um in die Küche zu gehen.
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© 2022 Michael Wiedorn
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