Wie lange ist es nun schon her, dass ich hierher gebracht wurde? Ich habe aufgehört, die Tage, Wochen und Monate zu zählen. Und dass die Kinder aus der Nachbarschaft finden, wenn ich Flügel hätte, wäre ich ein richtiger Pegasos, ist auch kein Trost. Was sie nicht wissen können. Ich ähnle nicht nur einem, ich bin der Pegasos.
Flügel, für was brauche ich denn noch Flügel? Pah. Diese haben sich durch den Nichtgebrauch der letzten Zeit nach und nach zurückgebildet. Die einst stolzen Schwingen sind verkümmert. Kürzlich sind sie abgefallen. Hinter der Brust, zwischen den Schultern und dem Widerrist sind nur noch ein paar Knorpel übrig geblieben – Schluchz – Traurig, aber wahr. Das waren noch Zeiten, als ich am Olymp – dem griechischen Götterberg – umhersauste. Empor zu den in den Himmel ragenden Berggipfel, vorbei an knorrigen Olivenbäumen und wieder runter über braungrüne Wiesen und weiter bis ans Meer.
Die Schweizer Behörden zeigten sich unnachgiebig. Hier seien neben Insekten und anderem Kleingetier nur Vögel zum Fliegen berechtigt. Das bringe schon genug Umtriebe mit sich. In der Landwirtschaft und erst beim Flugverkehr. Wenn ganze Schwärme einem Flugzeug in die Quere kommen, könne das zu Abstürzen führen. Zudem werde der Bau von Windturbinen zur Erzeugung von elektrischer Energie durch die «gefiederten Freunde» behindert. Obschon man angesichts des Klimawandels auf solche dringend angewiesen ist. Und jetzt soll man auch noch Pferde fliegen lassen? Sicher nicht. Basta! Keine Diskussion.
Na dann. Gut. Sie haben es mir freundlich erklärt. Aber für meinen Standpunkt, dass ich als Kind des Meeresgottes Poseidon und der Gorgone Medusa eigentlich gar kein Pferd im ursprünglichen Sinne bin, zeigten sie kein Verständnis. Für die Behörde sei ich ein Pferd. Sollte dies in Zweifel gezogen werden, wäre das der Behandlung meines Asylgesuches nicht förderlich. Wenn ich kein Pferd sei, was dann? Eine Frage, welche zu veterinärpolizeilichen Problemen führen könnte. In der Folge verzichtete ich darauf, meine Herkunft näher zu erläutern. Wenn ich erzählt hätte, dass Perseus – einer der berühmtesten Heroen der griechischen Mythologie – meine Mutter enthauptete und ich dabei aus deren Nacken gesprungen bin, hätte sie mich wohl für verrückt erklärt und in eine Psychiatrische Klinik eingewiesen.
Gut, das blieb mir erspart. Ich wurde hier in Le Roselet platziert. Das ist ein Zuhause für betagte Vierbeiner. Beklagen kann ich mich nicht. Im Gegenteil. Alles ist sauber, ich werde regelmässig gestriegelt, genügend Futter und ein kuscheliges Strohbett in einer Stallgemeinschaft habe ich auch. Und die gegen 200 Kolleginnen und Kollegen sind ganz nett. Gut, einfach Pferde, Esel und Ponys halt. Auch von meinem Alter passe ich gut hierher. Schliesslich habe ich meine grössten Abenteuer vor langer Zeit im alten Griechenland bestanden.
Ja – seufz – das waren noch Zeiten. Ich sehe Bellerophon noch vor den Augen, als ob es gestern gewesen wäre. Wie er da stand … Ein toller Bursche, dieser Sohn des korinthischen Königs Glaukos. Und ein bedauernswerter. Weil er sich auf kein Techtelmechtel mit Stheneboia, der Frau des Herrschers von Tyrus einliess, bezichtigte ihn diese, er habe sie vergewaltigt. Zur Strafe wurde er mit schweren Aufgaben betraut.
Als Erstes sollte er der feuerspeienden Chimäre den Garaus machen. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Deshalb sollte ich ihm helfen. Göttin Athene, welche von seiner Unschuld überzeugt war, gab ihm, um mich einzufangen und zu bändigen, mein goldenes Zaumzeug.
Ha! Und ich war ihm eine grosse Hilfe. Bei seinen bisher zu Fuss geführten Kämpfen musste Bellerophon oft um sein Leben bangen. Jetzt konnte er auf mir reitend die Chimäre aus der Luft angreifen. Was diese immer wütender machte und ihn mit immer mehr mächtigen Feuerpfeilen aus ihrem geifernden und fauchenden Maul beschiessen liess. Stets war ich aber behände genug, diesen auszuweichen. Er vermochte ihr mit seinen Waffen immer mehr Wunden zuzufügen. Was aber keine Wirkung zeigte. Auf alle Fälle keine erwünschte. Im Gegenteil. Die Schmerzen liessen ihre Kräfte ins unermessliche wachsen. Aber einmal, als sie schnaubend nach Luft japste, steckte er ihr seine mit Bleikugeln bestückte Lanze in den feurigen Schlund. Im glühenden Atem schmolzen diese zu einem Lavastrom. Die Eigenweide des Untiers verdampfte und es verendete darob elendiglich.
Nachdem Bellerophon noch weitere Kämpfe glorreich bestanden hatte, war allen klar, dass er zu Unrecht beschuldigt worden war. Er wurde rehabilitiert und bekam eine Königstochter zur Frau. Mit der zeugte er drei Kinder. Aber statt sich des Lebens zu freuen wurde er hochmütig. «Was habe ich mit diesen Erdlingen hier noch zu schaffen», höhnte er, «nein, ich bin berufen, auf dem Olymp bei den Göttern zu wohnen.» Er befahl mir, ihn dorthin zu bringen. Dieses Verhalten brachte Göttervater Zeus in Rage. Er schickte eine Bremse los, welche mich stach und schreckte. Ich verlor das Gleichgewicht. Bellerophon stützte zur Erde in einem Dornenstrauch. Als vergessener blinder Krüppel siechte er fortan dahin. Ich selbst durfte anschliessend Zeus auf dem Olymp dienen. Immer, wenn dieser es gewittern liess, trug ich für ihn die Blitze und Donner.
Oh weh, mein lieber Olymp. Du bist auch nicht mehr, was du einmal warst. Mit deinen fünf schneebedeckten Gipfeln bist du noch immer stattlich anzuschauen. Aber die Aura der «guten, alten Zeit» ist vergangen. Ach, wie war das noch, als ich Prometheus zuschaute, wie er zu deinen Füssen aus Lehm die Menschen formte? Spätestens seit deiner Erstbesteigung zu Beginn des 20. Jahrhunderts bist du ein Tummelplatz für Krethi und Plethi geworden – und ein Biosphärenreservat der UNESCO. Pah! Und nicht zu vergessen sind die Archäologen, welche nach Spuren von uns suchen. Aber, welcher aufgeklärte Zeitgenosse will noch etwas mit den alten Göttern und uns, deren Helfern und Helfershelfern zu tun haben?
Ja, ja … Hektik und Aktivismus kaschieren die für uns alltäglich gewordene Ödnis und Tristesse. Was mich vor einiger Zeit bewog, mich dem langen Zug der Flüchtenden anzuschliessen, der aus der Türkei nach Griechenland kommend, weiter nach Norden zog. Das war kein einfaches Unterfangen. Hunger, Kälte, Krankheiten und schlechte Nachrichten waren an der Tagesordnung und in Windeseile hochgezogene Grenzzäune und Mauern versperrten den Weg. Da schnallte ich kurzerhand meine Habseligkeiten auf den Rücken und flog los.
Dass ich in der Schweiz landete ist purer Zufall. Bei meinem Flug über die Alpen donnerten auf einmal zwei riesige, «eiserne Vögel» heran. Ich dachte noch, wenn mein Hintern derart brennen würde, ich würde auch zetermordio brüllen. Vorne in den «Eisenvögeln» sassen in gläsernen Kästen Menschen. Die Piloten, welche die Flugzeuge – so nennen die Menschen diese Dinger – lenken. Einer deutete mir, zu landen. Was ich tat. Am Boden rasten uniformierte Männer und Frauen mit in einer Reihe Autos mit Sirenengeheul und blinkenden blauen Lichtern auf den Dächern heran und nahmen mich in Empfang.
Seufz. Jetzt stehe ich hier. Ungewiss was werden wird. Ich sei ein besonderer Fall, sagen die Männer und Frauen vom Amt für Flüchtlinge immer wieder. Alte Götter und deren Gehilfen, welche um Asyl suchen, weil die Leute in der Heimat nicht mehr an sie glauben, seien in ihren dicken Gesetzbüchern nicht vorgesehen. Schnell lasse sich das nicht ändern. So etwas erfordere ein ausgewogenes legiferieren.
Es dunkelt ein. Schnief. Es wird Zeit in den Stall zu gehen. Dort, am Horizont, erwacht das Sternbild des Pegasos. Einfach ein erhebender Anblick. Dieses hat vor langer Zeit Zeus an den Orbit gezimmert. Als Dank für meine treuen Dienste.
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© 2022 Hans Peter Flückiger (Text und Bild)
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