Die Angst vor dem Tod

Von Johannes Morschl

Der Mensch ist wie ein Hauch; seine Tage sind ein vorbeifliehender Schatten. (Psalm 144,4)

In seinem Buch Existentielle Psychotherapie weist der US-amerikanische Psychotherapeut und Romanautor Irvin D. Yalom (u.a. Als Nietzsche weinte, Die Schopenhauer-Kur) darauf hin, dass Psychotherapie unvollständig bleibt, wenn sie nicht den Zusammenhang der psychopathologischen Symptome mit der ständig unter der Oberfläche des Bewusstseins vorhandenen Angst vor dem Tod einbezieht. Yalom sieht im Tod die ursprüngliche Quelle der Angst und somit eine primäre Quelle der Psychopathologie. Die Urangst, die letztlich hinter allen anderen Ängsten steht, ist die Angst vor dem Tod als Angst vor dem „Nichtsein, das Nichtsein bleibt“ (Paul Tillich). Die Abwehr und Verdrängung dieser Angst blockiert das Selbst- und Welterkennen und verstellt die Öffnung zur Fülle des Lebens.

In der Welt sein ist Sein zum Tode, heißt es bei dem deutschen Philosoph Martin Heidegger in seinem bekanntesten und philosophisch einflussreichsten Werk Sein und Zeit (Erstveröffentlichung 1927). Die Gewissheit des Todes begleitet das Leben von Anfang an und löst eine latent vorhanden bleibende Grundangst vor dem Erlöschen im Nichts aus. Diese Angst ist wegen ihrer Unbestimmtheit, die auf ein Nichts und Nirgends verweist, unheimlich. In dieser Unheimlichkeit der Angst erleben wir uns ungeborgen in der Welt. Wir neigen dazu, diese Unheimlichkeit und Ungeborgenheit zu verdrängen und im alltäglichen gesellschaftlichen Getriebe unterzutauchen. Wenn wir uns dies bewusst machen, können wir aus dem Zustand der Seinsvergessenheit in den Zustand der Entschlossenheit zum Sein wechseln, die letztlich auch eine Entschlossenheit ist, sich handelnd schuldig zu machen und den Tod in Kauf zu nehmen.

Bei Heidegger darf nicht unerwähnt bleiben, dass er bereits 1932 die NSDAP gewählt hat und ihr am 1. Mai 1933 beitrat. Er blieb bis Ende des Zweiten Weltkriegs Parteimitglied von ihr. Er sah die Entschlossenheit zum Sein in der nationalsozialistischen Bewegung verkörpert, wobei sie ihm diesbezüglich noch zu wenig radikal war. Auch entpuppte er sich nach der posthumen Veröffentlichung seiner Schwarzen Hefte als übelster Antisemit, der sich eine Welt ohne Judentum wünschte. Paradoxerweise hatte er, als er noch außerordentlicher Universitätsprofessor in Marburg in der Weimarer Republik war, ab 1927 (nach Veröffentlichung von Sein und Zeit) ein außereheliches Liebesverhältnis mit der jüdischen Studentin Hannah Arendt. (Wer sich für diese seltsame Beziehung der beiden so gegensätzlichen Persönlichkeiten interessiert, dem empfehle ich das Buch von Antonia Grunenberg, Hannah Arendt und Martin Heidegger : Geschichte einer Liebe, Piper 2006.)

Der in den vorherrschenden Gewohnheiten, in der kulturell-gesellschaftlich geprägten Normalität des Alltags untertauchende Mensch neigt dazu, vor seiner existenziellen Angst in Egozentrik, Selbstmitleid und Aggressionen gegen konstruierte Außenfeinde und Sündenböcke zu fliehen. Er verschließt sich geistig und emotional. Es fehlt ihm an Selbsttransparenz. Er kann nicht akzeptieren, nur ein endliches Ereignis des Seins zu sein.

Es gibt Situationen im Leben, um die wir nicht herumkommen und in denen die existenzielle Grundangst hervorbrechen kann. Der deutsche Philosoph und Psychiater Karl Jaspers nannte sie Grenzsituationen. Wir leiden, kämpfen, sind dem Schicksal unterworfen, verstricken uns in Schuld und müssen sterben. Im Alltag verschließen wir uns diesen Tatsachen und tun so, als wären sie nicht da. „Wir vergessen, dass wir sterben müssen, vergessen unser Schuldigsein und unser Preisgegebensein an den Zufall“, schrieb Jaspers in seiner Einführung in die Philosophie.

Grenzsituationen sind nicht nur Situationen, die Angst und Verzweiflung auslösen können, sondern sie können uns auch aus der Seinsvergessenheit, aus der Scheinsicherheit des Alltags wecken und dazu führen, unser Leben zu verändern. Wer seine Verletzlichkeit, Zerbrechlichkeit und Endlichkeit bewusst annehmen kann, der kann sich mit neuem Mut dem Leben zuwenden und aus der Angst und Verzweiflung in seine Würde und Kraft kommen.
Die Veränderung besteht darin, das vom Schicksal Geschickte bewusst anzunehmen. Man verstehe dies nicht falsch: Es bedeutet nicht, in Fatalismus zu verfallen und sich zum Beispiel widerstandslos staatlicher Missachtung der Menschenrechte und sozialer Ungerechtigkeit zu fügen. Es bedeutet nicht, auf die Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse und auf die Auseinandersetzung mit ihnen zu verzichten.

Der US-amerikanische Psychiater und Gestalttherapeut Arnold R. Beisser beschrieb in seinem Buch Wozu brauche ich Flügel?, wie er im Alter von 25 Jahren an Kinderlähmung erkrankte, die zu einer fast vollständigen Lähmung führte, und versuchte, mit dem schweren Schicksal zurechtzukommen, das ihn anfangs in den Abgrund der Verzweiflung gestoßen hatte. Mit der Zeit lernte er, das, was unumkehrbar war, anzunehmen, und das, was im Rahmen seiner schweren körperlichen Behinderung verändert werden konnte, anzugehen. Ausgehend von dieser Erfahrung entwickelte er die paradoxe Theorie der Veränderung, welche in die Gestalttherapie (begründet von Fritz und Laura Perls) Eingang gefunden hat. Beisser schrieb, dass Veränderung dann geschehen kann, wenn man akzeptiert, was man ist, jedoch nicht, wenn man versucht, etwas zu werden, das man nicht ist. Veränderung ergibt sich nicht aus dem Versuch, sie zu erzwingen, aber sie findet statt, wenn man sich die Zeit nimmt und die Mühe macht, zu sein, was man ist. Dies bedeutet, sich voll und ganz auf sein gegenwärtiges Sein einzulassen. Wenn Gefühle der Angst, Ungeborgenheit, Ohnmacht und Hilflosigkeit hochkommen, hilft nicht ihre Bekämpfung, nicht der Versuch, sie weg zu therapieren. Vielmehr helfen das bewusste Wahrnehmen, das bewusste körperliche Spüren der Angst, Ungeborgenheit, Ohnmacht und Hilflosigkeit, das bewusste und achtsame Annehmen dieser Gefühle und Hindurchgehen durch sie. Dies führt paradoxer Weise zu einer emotionalen Veränderung und Stärkung.

In diesem Zusammenhang muss auch unbedingt der berühmte britische Astrophysiker und Sachbuchautor Stephen Hawking (Eine kurze Geschichte der Zeit, Das Universum in der Nussschale, Kurze Antworten auf große Fragen) genannt werden. Bei ihm wurde im Alter von 21 Jahren eine Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) diagnostiziert, in deren Folge er seine motorischen und sprachlichen Fähigkeiten verlor und schließlich nur noch über einen Sprachcomputer kommunizieren konnte. Er war verheiratet und hatte eine Tochter und einen Sohn. Im Nachwort zu seinem Buch Kurze Antworten auf große Fragen schrieb seine Tochter Lucy Hawking: „Mein Vater gab nie auf, er wich nie vor einem Kampf zurück.“ Und: „Er litt, aber er gab nicht auf.“

Wir neigen dazu, die Angst vor dem Nichts und Nirgends abzuwehren und zu verdrängen. Wir versuchen, sie mit Hilfe religiöser Vorstellungen von der Unsterblichkeit der Seele, vom Weiterleben in einem Jenseits oder von der Wiedergeburt (Reinkarnation) zu bannen. Wir verwandeln die Angst vor dem Nichts und Nirgends in die Furcht vor etwas Bestimmten, etwa in die Furcht vor den Umständen des Sterbens, vor dem Verlust von Menschen, Tieren und Dingen, an denen wir hängen und die wir im Tod zurücklassen müssen. „Aber letztlich sind die Versuche, die Angst in Furcht umzuwandeln, vergebens. Die Grundangst, die Angst eines endlichen Wesens vor der Drohung des Nichtseins, kann nicht aufgehoben werden. Sie gehört zur Existenz selbst.“ (Paul Tillich, Der Mut zum Sein)

Die Angst vor dem Nichtsein, das Nichtsein bleibt, ist die tiefste und am stärksten verdrängte Angst. Ihr nahe steht die Angst vor dem Schicksal, vor dem Ausgeliefertsein an die Macht des Zufalls. Angst macht dabei die „Irrationalität, die undurchdringliche Dunkelheit des Schicksals. Aber die relative Bedrohung ist nur Bedrohung, weil im Hintergrund die absolute Drohung steht. Das Schicksal würde keine unausweichliche Angst erzeugen, wenn nicht der Tod dahinter stünde.“ (Tillich)

Manche Psychotherapeuten und Psychiater sehen in der Angst nur ein psychopathologisches Phänomen, das sie durch Beseitigen heilen wollen. Sie übersehen dabei die in der Sterblichkeit liegende Wurzel der Angst. Diese existenzielle Grundangst kann nicht beseitigt werden. „Der Psychiater, der behauptet, dass Angst immer pathologisch sei, kann nicht leugnen, dass die Krankheit in der menschlichen Natur potentiell immer gegenwärtig ist. Er muss dem Vorhandensein von Endlichkeit, Zweifel und Schuld in jedem menschlichen Wesen Rechnung tragen. Unter seiner eigenen Voraussetzung muss er die Universalität der Angst anerkennen.“ (Tillich)

Die existenzielle Grundangst gehört zum Menschsein dazu. Wir können ihre pathologischen Formen analysieren und mildern. Wir können Verhaltensweisen trainieren, um mit neurotischen Ängsten besser umgehen zu lernen. Wir können die Übernahme von Ängsten aus dem Familiensystem aufdecken und bei den Personen lassen, von denen wir sie übernommen haben. Wenn uns die Angst derart überschwemmt, dass wir handlungsunfähig werden, können wir uns notfalls Psychopharmaka verschreiben lassen, die helfen, sich angstfreier in der Umwelt bewegen zu können. Am Grund der Existenz aber bleibt die Angst vor dem Nichts und Nirgends. Es geht nicht, diese existenzielle Angst weg zu therapieren, so wie es nicht geht, unsere Sterblichkeit weg zu therapieren.

Aus meiner Sicht geht es vielmehr darum, sich der Grundangst in der Offenheit hin zum Sein, das Leben gewährt, trägt und wieder zurücknimmt, zu stellen. Hilfreich ist dabei das Sich-Spüren im Hier und Jetzt, das bewusste Wahrnehmen und Zulassen von allem, was hier und jetzt auftaucht. „Lass die Vergangenheit ruhen und vergiss die Zukunft. Ich werde dich das Jetzt lehren“, heißt es im buddhistischen Majjhima-Nikaya. Gelingt dies, so kann sich der Nebel der Anhaftungen an die Daseinsgebilde lichten und wir können jenen Zustand erreichen, der im apokryphen Thomas-Evangelium mit den Jesus-Worten benannt wird: „Seid Vorübergehende.“ In diesem Satz ist unsere Vergänglichkeit, nur für eine kurze Zeitspanne Gäste in der Herberge des Diesseits zu sein, vom Zustand des passiven Erleidens in den Zustand des bewussten Annehmens umgewandelt. Im bewussten Annehmen unserer Vergänglichkeit können wir inneren Frieden finden.

Nun könnte man gegen all dies einwenden, dass es nicht nur die Angst vor dem Tod, sondern auch eine Todessehnsucht gibt, die im Tod eine Erlösung von den Übeln der Welt sieht. In den KZs der Nazis sind Häftlinge in den elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun gelaufen, um dieser Hölle zu entgehen. Es gibt den Freitod, den viele Menschen gewählt haben und wählen, sei es zum Beispiel wegen einer unglücklichen Liebe, einer unheilbaren Krankheit, des Todes einer geliebten Person, einer unerträglich gewordenen Armut, einer totalen Vereinsamung, eines wirtschaftlichen Ruins, eines einen überschwemmenden Gefühls der Sinnlosigkeit des Lebens, usw. Der Freitod wird abwertend Selbstmord genannt. Er wird religiös und moralisch diffamiert. Er müsste aber ebenso als Menschenrecht anerkannt werden, wie das Recht auf Leben. (Diesbezüglich verweise ich auf das Buch Hand an sich legen – Diskurs über den Freitod von Jean Améry).

*

© 2022 Johannes Morschl
Alle Rechte vorbehalten