Von Pia Dosse
Ich stehe hier und meine Füße frieren.
Ich schaue auf deine Haustür. Die Tür, durch die ich schon so oft gegangen bin. Die Tür, die auch für mich in ein zu Hause geführt hat. Weil du mein zu Hause warst. Es tut scheiße weh und ich wünschte das läge nur an meinen Füßen, die in zwei Paar Socken und den dreckigen Sneakers stecken und die trotzdem inzwischen durchgefroren sind, weil ich hier schon so lange stehe. Hier. Vor deiner Haustür. Und mein Kopf will es noch nicht wahrhaben, obwohl mein Herz es längst schon weiß. Und ich fühle es auch, denn mein Herz liegt hier, neben mir, im Nieselschnee und friert. Es war so lange bei dir und jetzt hast du es mir zurückgegeben. Mir vor meine Füße gelegt, weil du es nicht mehr tragen kannst. Mich nicht mehr tragen kannst.
„Anna?“ hast du gefragt. „Schau mich an.“ hast du gesagt. Ich habe dich angeschaut und deine Tränen gesehen. Ich habe dich angeschaut und mein zu Hause gesehen. Ich habe dich angeschaut, dir in die Augen gesehen und den Ort gesehen, den ich liebe, den ich brauche, der alles für mich ist. Ich wollte nicht schauen, weil ich wusste, dass ich dann nicht mehr wegschauen werde. Ich wollte dortbleiben. An diesem Ort. In dir, bei dir, mit dir. Weil du alles für mich bist. Du bist perfekt. Aber du bist es viel zu sehr. Ich habe meine Hand genommen und dir über die Wange gestrichen. Habe deine Tränen weggewischt und bin ertrunken in meinen Eigenen. Liebe. Ich weiß jetzt was das ist. Du hast es mir gezeigt in all den Stunden, all den Wochen, all den Jahren, die wir zusammen verbracht haben. Liebe. Das habe ich jetzt gefühlt. Und ich werde sie behalten. Meine Liebe für dich, die werde ich immer behalten. Dich. Dich werde ich immer behalten. In meinem Herzen, in meinen Erinnerungen und in meinen Wörtern. Aber ich verstehe es. Ich verstehe, warum du mich nicht mehr tragen kannst. Du trägst nicht nur mein Herz, eigentlich trägst du alles von mir. Und ich weiß nicht mehr wie ich mich alleine tragen kann. Du liebst mich und deshalb willst du, dass ich mich auch alleine tragen kann. Ohne dich. Also wirst du mich loslassen. Ich muss fallen, um zu lernen, wie man fliegt. Aber ich habe so Angst, dass ich es nicht schaffe. Nicht ohne dich. „Ich weiß.“ habe ich geflüstert; du hast mich geliebt. „Ich weiß.“ flüsterte ich hinterher; du machst das, weil es nicht mehr geht. Nicht mehr so. „Ich weiß.“ flüsterte ich noch einmal, weil du mich immer lieben wirst. Ich liebe dich auch. Diese Wörter haben wir uns nie gesagt. Das brauchten wir nicht, weil wir es nicht hören mussten. Wir sahen es bei dem Anderem in jeder Geste, fühlten es in jeder Berührung, hörten es in jedem Wort. Wir schmeckten es, in jedem Kuss. Aber dann habe ich sie dir gesagt, diese Wörter, weil ich wollte, dass du sie nie vergisst. Was bei anderen Beziehungen der Anfang ist, das war bei unserer das Ende: „Ich liebe dich“. Meine Stimme war ganz heiser und gebrochen von zu vielen Gefühlen für dich. Du hast aufgeatmet, voller Schmerz und voller Trauer. Dieser Verlust, der in der Luft hing, dort zwischen uns, war zu schwer, zu groß, zu stark. Ich konnte nicht atmen und suchte meine letzte Luft bei dir. Ich drückte meine Lippen auf deine. Ganz vorsichtig und doch so vertraut. Du warst ganz warm, deine Lippen waren weich. Ich fühlte mich sicher, zu Hause. Du küsstest mich ganz vorsichtig zurück. Langsam und bestimmt. Tränen liefen über meine Wangen und vermengten sich mit deinen. Ich glaube, das war unser salzigster Kuss. Der Rhythmus unserer Lippen folgte unserem Lied und unsere Herzen schlugen einen heftigen Beat. Ich habe vor dir oft andere Männer geküsst, aber das waren kalte Küsse, Küsse ohne Gefühl. Mit dir habe ich kennengelernt was warme Küsse sind. Küsse voller Gefühle, voller Liebe. Wir küssten uns heiß. Vorsichtig hast du deine Zunge in meinen Mund geschoben und ich ließ zu, dass du mir zum letzten Mal so nahe warst. Du hast mit mir gesprochen, dein Mund war auf Meinem. Es war viel zu schön und du warst viel zu schön und unsere Zeit zusammen war es auch. Du bist zu viel für mich und ich bin mir alleine viel zu wenig. Deshalb wirst du mich loslassen. Deine Lippen verließen meine und ich keuchte auf. Ich kann den Schmerz immer noch nicht tragen, denn er erscheint zu groß für eine Person alleine. Weil ich dich liebe und das immer schon mehr als mich selbst, gab ich dir die Hilfe, die du brauchtest, um das zu tun, was dir am Allerschwersten fällt. „Lass mich los. Es ist schon okay.“ Meine Worte waren ganz leise und unterlaufen von meinen Tränen. Sie nahmen den ganzen Raum zwischen uns ein und trieben uns auseinander. Ich habe noch nie etwas Schmerzhafteres gefühlt, als in diesem Moment. Dem Moment in dem du mich losgelassen hast. „Ich liebe dich auch.“ sind die letzten Worte, die deinen wunderschönen Mund verlassen haben und die ich von dir hören durfte.
Jetzt stehe ich hier und meine Füße frieren.
Aber was wirklich friert, das ist mein Herz. Ich habe nicht die Kraft in mir, es aufzuheben. Ich weiß auch gar nicht, wie ich es halten soll. Und ich habe keine Ahnung mehr, wie es schlagen soll, weil es viel zu lange nur für dich geschlagen hat. „Fühlt sich so sterben an?“ flüstere ich heiser in die Dezembernacht hinein und schaue dabei auf mein Herz herunter. Es ist schon ganz blau und taub und voller Matsch. Es sieht so kaputt aus und so krank und Ich lasse meine Tränen für es laufen. Ich bin nicht tot, ich habe nur gerade mein zu Hause verloren. Gerade tut mir alles weh und ich denke Leben ist manchmal so verdammt scheiße. Aber du hast mir gezeigt, wie stark mein Herz schlagen kann. Wie stark es ist und wie stark ich bin. Und dafür bin ich dankbar. Ich suche nach der letzten Kraft in mir und als ich sie gefunden habe, beuge ich mich zu meinen kalten Füßen und zu meinem blauen Herzen. Ganz vorsichtig nehme ich es in meine Hände und es fühlt sich ganz merkwürdig an. Ungewohnt. Ganz sacht puste ich die Schneeflocken von ihm herunter und drücke es an meine Brust. Es soll wieder warm werden. Nicht jetzt sofort, dafür hat es zu viel durchgemacht. Ich gebe ihm Zeit. Ich wünsche mir, dass es irgendwann wieder anfängt so stark zu schlagen wie zuvor. In mir, bei mir, mit mir. Für mich. Mit einem Rhythmus, den es mit dir geschlagen hat. Ein letztes Mal schaue ich auf deine Haustür, deine Hauswand hoch und in dein Fenster. Du bist nicht mehr da. „Auch blaue Herzen schlagen bis sie wieder rosa sind.“ Mein Atem bildet warme Wolken in der kalten Nacht und meine Wörter schluckt der Schnee.
Ich drehe mich um und meine eingefrorenen Füße tragen mich
davon.
*
© 2022 Pia Dosse (Text & Bild /Quelle Bild flickr.com)
Alle Rechte vorbehalten