Von Michael Wiedorn
Sie betrachtet seinen roten Stiernacken. Seine Visage ist dumpf und roh. Seine seit der Kindheit kraftvoll angewachsenen Arme. Sie möchte zubeißen. Sie geniert sich, wie sie ihren eigenen Sohn anstarrt. Man darf seine eigenen Kinder nicht verspeisen. Ihr vor Jahren verunglückter Mann lebt wieder. Er erscheint nachts in ihren Träumen. Die zertrümmerte Karosserie seines Autos. Sie sah ihn noch als hilflosen Torso auf der zum Krankenwagen rollenden Trage. Nach der Benachrichtigung über sein Verscheiden weinte sie ihm keine Träne nach. Sie betrachtet die sehnigen Muskeln auf dem Rücken ihres Sohnes. Ihr Mann ist nie gestorben. Er sitzt vor ihr am Tisch, als könnte er nie altern. Sein glattes, schwarzes Haar über einer niedrigen Stirn ist kurz geschnitten. Er hat dicke Augenwülste, als wäre er in der Eiszeit geboren worden. Blaue, hundetreue Augen. Das Blau heimtückischer Meeresfluten, die an einem freundlichen Sommertag arglose Badegäste zum Schwimmen verführen, ist verlogen. Die Naiven lassen sich vertrauensselig immer weiter ins offene Meer treiben, bis die Fluten über ihnen zusammenschlagen und sie in die Tiefe ziehen. Auf dem Unterarm ihres Sohnes wird die Sonnenkugel von einem Dolch durchdrungen. Die Sonne verfärbt sich vor Schmerz. Sie erlöscht und die Erde stürzt in Hilflosigkeit. Die Mutter weiß nichts mehr von der Geburt ihres Sohnes. War er jemals ein Säugling und ein Kind. Der Dolch durchschneidet die Sonne. Ihr Körper wird von etwas auseinandergerissen. Ein tiefer Schnitt in ihre Eingeweide. Ein Kind liegt rot und feucht auf dem Tisch. Ihr Sohn dreht sich um und sieht sie befremdet an. Sie senkt verlegen den Blick und fühlt schmerzhaft den Ekel, den ihr Sohn ihr gegenüber empfindet. Sie ekelt sich vor sich selbst. Ihre gealterte Haut ist gelb. Ihre Zähne sind gelb. Sie sieht in ihm einen Feind, der sie bedroht.
Seine Jugend und Kraft. Er zieht sich an um die Wohnung zu verlassen.
Er sitzt in einer Gaststätte. Eine fremde, alte Frau sieht ihn zornig an. Sie setzt sich ohne zu fragen an seinen Tisch. Sie starrt ihn schweigend an. Er versucht über sie hinweg zu sehen. Hat sie Angst vor ihm, fragt er sich. Sieht sie in ihm jemand Anderes und hegt gegen ihn einen unbändigen Zorn. Eine Verrückte. Plötzlich hält sie ihm ein Schwarzweißfoto vor die Nase. Der weiße Rand des Bildes ist schon angegilbt. Erstaunt sieht er sich selbst auf dem Foto abgebildet. Sein Doppelgänger steht in sommerlichen Grünanlagen, in denen er sich selbst nie aufgehalten hat. Er trägt ein offenes, weißes Hemd und eine locker sitzende Krawatte. Über die Schulter trägt er ein Jackett. Im Hintergrund stehen altmodische Autos wie vor zwanzig oder dreißig Jahren. Der Mann auf dem Foto ist tot. Ganz sicher. Ist der junge Mann am Tisch in der Gaststätte ebenfalls tot? Er teilt die Angst der Frau vor ihrem Ehemann. Die Frau haßt ihren Mann – weiß der junge Mann.
Als Kind konnte er nie verstehen, daß er nur seiner Mutter entwachsen ist. Einer jungen Frau entfällt ein Organ, das von einer Hebamme vom Boden aufgehoben wird. Alle anderen Kinder, denen er begegnet war, waren aus zwei Quellen entwachsen. Warum sah er nicht spiegelbildlich gleich wie seine Mutter aus? Nur viel kleiner wie eine extra für sie hergestellte Puppe. Hatte er keinen anderen Ursprung? Das Loch, das seinen Vater ersetzt, hat kein Gesicht, keine Gestalt, keine Form. Der Sohn stellt sich eine von angriffslustigem Rot durchsetzte Schwärze vor. Unten auf dem Grund eines tiefen Brunnens lodern Feuer. Ein heißer Tigeratem weht. In Tagträumen ist er als schwarze Dahlie einem Serienmörder entsprossen. Der Körper eines jungen Mädchens wurde in zwei Teile seziert. Brustkorb, Arme, Kopf hielten und verwesten zusammen. Beine und Geschlechtsteil ruhten auf der anderen Seite. Ein Mädchen hatte zwei getrennte Körper. Die Schnittflächen waren naß und schrieen. Schmeißfliegen legten kleine Eier im warm dampfenden Bauch der Toten. Tat das der Vater? Glasgow-Kick. Bei einem wilden Schmerzensschrei rissen ihr die angeritzten Mundwinkel zu einem Clownslachen auf. Das Opfer wird gezwungen seinen eigenen Schmerz zu verhöhnen.
In Träumen tritt er in SS-Uniform auf. Schwarz wie das tiefe Loch, das ihn zeugte. Glänzende, frisch gewichste Schaftstiefel. Rot leuchtet die Armbinde wie das Feuer tief im Grunde. Dort unten erschallt ein Schrei. Fremde Augen blicken liebend zu ihm hoch. Das knirschende Lederkoppel. Er zieht den Revolver. Er zielt mitten ins Herz seines Sohnes. Der Schuß zerreißt mir das Herz.
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© 2022 Michael Wiedorn
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