Die Wiedergeburt

Von Michael Wiedorn

Etwas zu früh erscheine ich auf dem Krankenhausgelände. Ich bin ausgeschlafen. Kein Grund zur Sorge. Staroperationen sind heute Routine. Fließbandarbeit. Heute strahlt die Sonne. Die Sommerferien haben schon begonnen und die Freibäder dürften heute gerammelt voll sein. Es sollte kein Tag zum Sterben sein, sondern ein Tag des Vergnügens.
Wenn man das Krankenhaus betritt, schreitet man durch die Toreinfahrt eines Schlosses. Schwere Säulen an den Seiten, dann erreicht man einen geometrisch angelegten Garten mit barock anmutenden Gebäuden an den Rändern. Wo sind die Kutschen, die Kurfürsten und Grafen einfahren. Sträflinge leben in Burgen, in denen früher Könige lebten. Irre blicken durch Gitterfenster auf Schlossparks. Ich durchquere eine weitere Toreinfahrt und stehe in einer parkartigen Straße, eingesäumt von modernen, einstöckigen, schmucklosen Betongebäuden. Sachlich und nüchtern wie die exakte Wissenschaft. In der Mitte der Fahrbahn zieht sich ein breiter Grünstreifen, an dessen Rändern Sträucher und weiß gestrichene Parkbänke stehen. Bleiche Kranke in Bademantel und Schlafanzug gehen an Krücken oder schleichen auf butterweichen Beinen vorbei. Das Leben ist hier beunruhigt gedämpft und gemahnt mich an eine vielleicht nicht allzu ferne Zukunft, in der ich immer weiter in die Langsamkeit und Müdigkeit des Alters verscheiden werde. Die Betonwände und weißgetünchten Mauern in Gesundheitseinrichtungen versuchen die Todesangst an ihrer Sachlichkeit abprallen zu lassen. Die fröhliche Parkvegetation und die nüchternen Bauten verbieten jede Melancholie. Man könnte sonst in Stimmungen lustvoll schwimmen und tauchen. Ein junger Sportler wankt mit vom Verband schwerem und aufgebauschtem Bein vorbei. Eine gelbgesichtige, ausgemergelte Frau mit fettsträhnigem Haar ist mit dünnen Schläuchen an einen rollbaren Ständer mit Tropfgerät angeschlossen. Eine krank vergilbte Flüssigkeit. Dieses Gift verseucht jeden tödlich, der es nur mit Fingerspitzen anrührt. Kranke sind Häftlinge unter dem Bann der Todesstrafe. Neben ihr läuft ein ebenfalls gelbhäutiger, ausgemergelter Mann in normaler Straßenkleidung. Leiden die Beiden an der selben Krankheit? Die zersoffene Leber durchtränkt den Körper mit Gift. Viele Kneipen im Wedding sind nur mit von Bier und Schnaps umnebelten Hirn zu überleben. Vielleicht hat sie gar nichts an der Leber. Was geht mich das an? Meine Neugier ist zudringlich. Sie ist aufdringlich. Ich fühle nicht das geringste Mitleid. Bin ich grausam? Vielleicht ein ganz klein wenig?
Ich bin zu früh hier und setze mich auf eine der weißen Parkbänke. Mein Körper fühlt sich noch ausgeschlafen und gesund an, aber mir ist, als würde der giftige Schnee des Körperverfalles mich verschlingen und ich werde heute um viele Jahre altern. Krankenhäuser verseuchen jeden. An diesem Ort wird vielen klar, dass sie nur mehr wenige Wochen oder Tage halbwegs heil das Grünen und Welken der Bäume erleben werden, dass sie sehr bald in jammernde Krüppel verwandelt werden, dass sie weniger als jeder Luftzug vorhanden sein werden.
Ich stehe auf und betrete Haus 4 – das Gebäude für Augenmedizin. Weiß ist in Japan die Farbe des Todes. Weiß ist die Farbe der emotionalen Sachlichkeit, die mit Zahlen, Tüchtigkeit und hektischer Triebigkeit, dem Schwarz, das sich immer wieder ausbreiten will und immer mehr Lebendigkeit verschlingen will, entgegensetzt und abzuwürgen versucht. Es herrscht hier Lichtzwang. Eine hysterische, künstliche Helligkeit. In langen, vom natürlichen Sonnenlicht abgedichteten, künstlich beleuchteten Korridoren sitzen zu Tode gelangweilt und vor sich hinbrütend die Patienten. Die Geduldigen. Meine Augenlinsen trüben sich und die Außenwelt entzieht sich mir immer mehr hinter dichteren Schleiern. Schleiern aus Dreck und Schleim. Mein Blick auf alles ist braun und schmutzig. Eine verfettete, ältere Frau hat ihre Fettpolster möglichst bequem auf ihren Rollator platziert. Eines ihrer Augen leuchtet in bluterfülltem Rot. Ihr ganzer Hass hat sich als Blut im Auge angesammelt. Die Pupille schwimmt auf einem brodelnden Feuersee. Von grauen Falten übersäte Greise jammern und murmeln über ihre zahlreichen Arztbesuche, die nie endenden Wartezeiten, ihre Blutungen und Geschwüre am Augapfel. Glaukom, Netzhautablösungen, zum Augapfel durchbrechende Hirntumore. Die Augäpfel sind gelb eingefärbt. Ein geiles, wucherndes Gelb, das vernichten und sich nähren will. Wundes Fleisch. Hier warten die Kassenpatienten. Sie warten hier schon seit vielen Jahren und werden hier noch einige Ewigkeiten warten. Das Leben ist kurz und wird vom Warten verzehrt. Tatenlos. In diesen Korridoren ist man vom Leben ausgeschlossen. Draußen in der Welt, die uns nichts mehr angeht, scheint die Sonne oder es regnet.
Ich fürchte mich vor Ärzten. Auf kaltem, keimfreiem Stahl liegt splitternackt mein Kadaver in seiner ganzen Kümmerlichkeit den eiszapfenkalten, wie frisch geschliffenen Messern schneidenden und stechenden Messern der Blicke ausgeliefert. Ich bin arm und mir steht keine eigene Kleidung zu. Ein Gegenstand.
Ich bin Privatpatient und gehe weiter zum Treppenhaus, das mich hinauf zum ersten Stock, zur Privatstation führt. Mich erfüllt die Ruhe und Behaglichkeit eines Menschen, der ein Restaurant oder ein Kino betritt. Mein Auge wird heute operiert. Operationen verändern das Leben. Manche Operationen zerstören. Werde ich morgen früh blind sein? Das Organ wird wohl durch eine Vorrichtung, vielleicht einem Draht, aufgerissen gehalten werden. Mein Blick wird so leer sein der des Schlachtviehs kurz vor der Tötung. Verletzt und blutunterlaufen. Ein Bauch wird der Länge nach aufgeschnitten, ein pochendes Herz wird aus der atmenden Brust gerissen. Ohne Betäubung dürften die stechenden Schmerzen töten. Ich bin ein Kind, das in Schleim und Blut geboren wird und gleichzeitig die aufgerissene Mutter. Ein eingeschnittener Augapfel zerfließt in seiner glasigen Zerbrechlichkeit. Ein kleiner Nadelstich, ein unvorhergesehener Riss, ein kampflustig glitzerndes Messer reicht und die Bäume und Vögel und Häuser ertrinken in Eiter und Tränen.
In der Privatabteilung strahlt die Sonne durch große Fenster. In der Kassenabteilung ist das Weiß der Wände und Türen vergilbt. Vergilbt wie die Haut eines Todkranken. Das Weiß der Privatabteilung leuchtet. Manchmal verfärbt das Tageslicht das Weiß ins Bläuliche. An den Wänden hängen sanfte, abstrakte Bilder, die das Gemüt beruhigen sollen. Hellblau, lindgrün, sanftes Ocker. Gegen die Unruhe des Herzens und der Gedanken helfen Tranquilizer. Ich melde mich beim Sekretariat und bekomme meine Krankenakte in die Hand gedrückt. Jetzt habe ich höchstens Angst vor der die Wände hoch und runter kletternden Langeweile, die mich beim stundenlangen Warten in den klinischen, eintönigen Korridoren anfallen wird. Der Überdruss und die fade Leere im immer wieder Gleichen des Klinikalltages. Ich sehne mich jetzt fast nach einer Trauer, die das Herz zerreißt, nach Schmerzen. Erstaunlicherweise verirre ich mich nicht im Labyrinth der Flure und Korridore, sondern finde erstaunlich schnell schlafwandlerisch den Lift, dessen metallene Tore sich öffnen um mich aufzunehmen und mich meinem Schicksal zueilen zu lassen.
Ich gehe einen Gang entlang, erreiche einen Raum mit Krankenhauspersonal und übergebe dort einer älteren Frau in grünem Operationsornat und einer Art Badekappe auf dem Kopf meine Akte und sie weist mich an, dass ich, bis ich meine Schrankschlüssel erhalte, mich zu den anderen Patienten setzen soll. Muss ich mich jetzt splitternackt ausziehen? Nein – nur mein T-Shirt und meine Schuhe – meint die Schwester. Ich schäme mich. Meine Füße sind seit den Ursümpfen nicht gewaschen worden. Ich habe sie gewissermaßen in den Sümpfen stehen gelassen. Fleisch und Haut sind mit Schlamm und Erde zusammengeflossen. Eine OP-Station muss keimfrei sein. Ich bin ganz unten ein artenreiches Biotop. Hier kriechen Würmer und Schnecken. Fliegen legen zwischen meinen Zehen Eier. Legen Fliegen überhaupt Eier? Die keimende und wuchernde Bauchflora hat erheblichen Einfluss auf die menschliche Psyche. Das Wachsen und Gedeihen und Blühen.
Ich brauche jetzt ein Örtchen, auf das ich mich unauffällig zurückziehen kann, um meine Drecksquanten zu waschen. Ich frage den einen vorübereilenden Arzt nach der nächsten Toilette. Mürrisch, als ahne er meine Unreinlichkeit, nickt er mit dem Kopf in Richtung Gang. „Dort ist das Klo“ – murmelt er nur. Im Waschraum entblöße ich meine fauligen, versumpften Baumwurzeln. Düster und feucht inmitten des strahlenden Weiß des Waschbeckenporzellans und der Kacheln. Es ist mir alles schrecklich peinlich und würde jemand eintreten, würde er mich angewidert und entgeistert anstarren und ich würde ihm mit vor Scham knallrotem Kopf trotzig ins Gesicht glotzen. Jetzt sind meine Füße sauber und ich kann entspannt auf meine Station zurück.
Kurz nach meiner Rückkehr kommt eine andere Schwester in OP-grün, übergibt mir den Schlüssel, führt mich in ein kleines Nebenzimmer, wo ich T-Shirt und Schuhe in einem Metallspind unterbringe und abschließe. Ich ziehe ein blaues Leinenoberteil und Pantoffeln an, die mir die Schwester eben gegeben hat. Ich blicke in den Spiegel über dem Waschbecken und finde, dass mir das Shirt steht. Dann setze ich mich ins Vorzimmer des OP-Saales. Drei ältere Herren im selben Kostüm warten hier. Ich fühle mich ihnen überlegen. Überheblich. Ich bin erheblich jünger. Der Graue Star befällt alte Leute. Mein jugendlicher Übermut entpuppt sich allmählich als rasende Nervosität. Die Haut mancher Todkranken sieht so schön durchblutet und rot aus kurz vor dem Erlöschen des Körpers. Ich habe Scheißangst. Meine Augen werden bald geschnitten werden. Auch Routineoperationen gehen gelegentlich schief. Der Alte mir gegenüber mit seinem Kassengestell und das Wartezimmer sind womöglich das Letzte, was ich in meinem Leben sehen werde. Von Reinheit geschliffener Stahl ritzt am gläsernen Weiß des Augapfels und lässt es davon fließen. Es ist stickig heiß im Raum und ich will in das Glas, das vor mir steht und das mir sauber vorkommt, Mineralwasser eingießen. Der alte Mann mir gegenüber macht mich aber darauf aufmerksam, dass es schon von jemand Anderem benutzt worden ist. Krankenhäuser sind Brutstätten von Bakterien. Die unsichtbare Macht des Wucherns und Keimens tötet. Ich gehe zum Waschbecken und nehme ein sauberes Glas. Gebirgsklares und kaltes Wasser soll mich von allem Verdorbenen reinigen. Prickelnd und eisig wie eine anbrandende Meereswoge. Die Flaschen mit blauen Deckeln enthalten Mineralwasser mit Kohlensäure.
Die große Metalltüre schiebt sich automatisch mit summendem Ton auf. Geister öffnen und schließen hier die Türen. Die Wände im OP-Saal sind flaschengrün gefliest. Die Instrumente und Marterwerkzeuge glitzern im gedämpft hellen Licht, das durch Milchglasscheiben an der Decke dringt. Man wird mich in diesem Saal foltern. Ich werde wiedergeboren werden. Grün maskierte Ärzte werden mich opfern. Blut wird meine ausgeräumten Augenhöhlen durchtränken. Aus meiner Brust werden die Arztpriester mein klatschnasses Herz herausreißen und triumphierend in die Höhe halten. Tiere werden kastriert und geschlachtet. Eine OP-Helferin führt einen alten Mann mit dickem Verband unter dem Brillenglas ins Vorzimmer zu uns anderen.
Die Metalltüre schließt sich hinter ihnen mit sanft summendem Ton. Die Schwester bindet dem Mann eine Art dunkelgraue Schwimmflügel zum Blutdruckmessen um den Oberarm. Der ältere Herr ist ganz bleich und zittert. Sie gibt ihm ein Glas Wasser, aus dem er hastig einen großen Schluck nimmt. „Es hat jetzt länger gedauert, als wir gedacht haben. Aber Sie waren tapfer“ – tröstet die Fürsorgliche. Es läuft also nicht alles nach Plan – verstehe ich. Er blickt mich mürrisch an, als ob ihn mein zudringliches Glotzen beleidigen würde. Ich schaue verlegen weg. Was mache ich, wenn ich mitten in der Operation muss. Ich werde mit gelb triefender Hose vor den hämischen Blicken dieser Greise dastehen. Es dauert und dauert und ich komme nicht dran. Nichts liegt mir jetzt ferner als Langeweile. Trotz der Angst kann ich meine Abschlachtung kaum erwarten. Mein Bangen wird von der Hoffnung auf einen klaren Blick auf die Welt überwogen. Ich will wieder geboren werden. In diesen sonnenbestrahlten Tagen versuchte ich öfters Straßen zu überqueren und der Nebel vor meinen Augen ließ mich nicht das Grün der Ampel vom Rot unterscheiden. Ein grünbrauner Nebel verklebt meinen Blick. Die Welt ist entschieden hässlicher geworden. Der Star sperrt mich aus der Außenwelt aus. Ich falle nicht in das tiefe Schwarz der konsequenten Blindheit, sondern versinke in grauem Dreck mit Braunstich. Ein leichtes, krankes Grün. Meine Finger klopfen nervös auf die Tischplatte.
Endlich nennt eine Stimme meinen Namen. Vor mir sehe ich die Brille und das durchfurchte Gesicht der Schwester. Ich stehe auf. Wir durchschreiten das sich wie von Zauberhand geöffnete Tor. Sie weist mich an, mich auf eine vor mir stehende Liege zu legen. „Bitte, legen Sie Ihren Kopf in die Mulde!“ Ich bemühe mich meinen Kopf in die Mulde zu legen. Auf solchen Bahren werden Leichen aus dem OP-Saal in die Anatomie gefahren. In der Anatomie wartet die einsame Masse der Toten – jeder einsam und einzeln ganz für sich. Dicke Metallwände trennen jeden Einzelnen von seinem Nachbarn. Die Augen haben ihre Lebensaufgabe endgültig erfüllt.
Die Schwester überstreicht mein Auge mit einer Salbe. Sie lässt mich allein. Ich warte, was da komme. Meine Erinnerung verschwimmt. Die Reihenfolge der kommenden Ereignisse – hat man mir schon eine Spritze gegeben? Habe ich einen Verband oder ein Pflaster auf der Schläfe? Ich weiß es nicht. Ich wage es nicht mich zu erheben. Ich warte und warte und empfinde statt Langeweile ein Unbehagen. Plötzlich vernehme ich eine junge Frauenstimme mit amerikanischem Akzent, die sich als Ärztin vorstellt. Ich sehe nicht ihr Gesicht. Ich bin heilfroh, dass sich jemand mit meinem Kadaver befasst und doch vielleicht die Aussicht besteht, dass die Prozedur beginnen könnte. Sie sagt noch etwas und verschwindet wieder ins Nichts. Ihre Stimme spricht jetzt in weiter Ferne zu jemand Anderem. Ich bin mutterseelenallein und gelähmt und kneife und presse meine Augen ganz fest zusammen. Öffne ich unbefugt meine Augen, um das mir Verbotene anzublicken, stößt mir zur Strafe ein Messer in den Augapfel. Ein Apfel wird geschält. In Schwarz-weiß wird der Augapfel einer jungen Frau von einer blanken Rasierklinge quer aufgeschnitten. Ein Auge ist ein Frühstücksei. Ich esse gerne Eier, die nicht ganz weich sind. Der Dotter fließt noch. Eine Prise Salz. Der weiße Eierschleim vermischt sich mit dem fließenden Gelb auf der strahlend reinen Schneide. Durchschnittene Hoden.
Ich warte und ich schwebe auf meiner Bahre weit über dem Fußboden des Operationssaales, der immer weiter in die Tiefe verschwindet. Würde ich fallen, würde ich tief – ganz tief – fallen. Der Sturz von einem hohen Turm ist meist tödlich.
Spricht jemand mit mir? Es ist vielleicht der Arzt, der mich operieren wird. Er sagt, dass ich jetzt gelagert werde. Funkstille und es geschieht wieder nichts. Ich warte und denke mir, ich wurde schon längst gelagert und spüre keine Betätigungen an mir. Ich liege doch schon. Lagern ist ein magischer Vorgang. Blödsinn! Unsinn! Jemand ist in meiner Nähe und ich setze schon an, ob ich denn schon gelagert werde und unterlasse die Frage, die nur meine Wahnanfälligkeit verraten hätte. Der Arzt erscheint wieder: „Ich werde Ihnen etwas in die Augen führen, um es offen zu halten und brauche ihre Mitarbeit.“ Er schiebt die Liege unter Apparate und kneift etwas Hartes zwischen meine Augenlider. Es ist ein Draht. Rostiger Draht, der mir in das Auge Wunden einschneidet. Also spricht der Arzt: „Es erscheinen jetzt fünf grelle Lichter. Blicken Sie in die Mitte!“ In der Mitte strahlt ein kleiner, roter Punkt. Der Punkt hält nicht still. Das Rot flackert unruhig. Meine Hornhaut stößt an Plastik oder Glas. Die Augenlider sind in Metalldrähte eingesperrt. Ein Äderchen wird geritzt und Dunkel hüllt sich um mich und wird mich nie wieder in die Freiheit entlassen. Ein Blinder ist ein Sträfling. Ein Blinder ist ein Beerdigter. Ich fürchte den roten Punkt zu verlieren. Der Punkt pulsiert vor Unruhe. Bei Androhung lebenslänglicher Dunkelhaft darf ich ihn nicht verlieren. Ich darf nicht auf die hellen Lichter blicken. Die Augenmedizin bietet mir ein spannendes Schauspiel – denke ich. Wie im Kino. Man wird hier verwöhnt. Der rote Punkt läuft mir davon. Er hat es eilig. Beharrlich glotze ich auf die Mitte, obwohl der Punkt geflohen ist. Die fünf hell leuchtenden Lichter zerfallen zu Eierschaum und überschwemmen die Mitte und zerfallen und zerfallen in immer kleinere Teile. Ich sehne mich nach Erlösung. Erlösung durch die Donnerstimme und den starken Arm des Herrn der Schöpfung, der am Anfang aller Zeiten den Geschöpfen die Augen aufriss und mir heute möglichst bald diese Sperre aus dem Auge nehmen soll und meine Verschmelzung mit diesen Apparaten auflösen soll. Der Apparat hat von mir Besitz ergriffen und ich bin er selbst und wir beide werden bald so ineinander verwachsen sein, dass uns niemand trennen wird.
Arm und Stimme des Herrn erscheinen. Das Gerät wird von mir weggeschoben. Ich werde von dem Klemmglas befreit.
Die Operation kann jetzt beginnen. Ich stürze ins Dunkel. Die kommenden Ereignisse entfliehen meinem Gedächtnis. Man hat mich wohl betäubt, muss man wohl. Bei der Nachuntersuchung wird man mir sagen, dass ich nicht betäubt worden bin, sonst hätte ich ein blaues Veilchen wie nach einer Schlägerei gehabt. Meine alte, vergammelte Linse wird aus dem Auge gelöst und eine Neue aus irgendeinem Kunststoff wird mit festen Krallen an den Seiten in das Auge befestigt. Ich bin ein Gerät. Mein Auge ist ein technisches Gerät mit Ersatzteilen.
Die Metalltüre öffnet sich wieder mit leisem Summen und ich durchschreite sie in Begleitung der Schwester. Sitze ich dann längere Zeit im Patientenzimmer und erhole mich und trinke Mineralwasser? Habe ich dann die Kleidung gewechselt? Später werde ich in normaler Straßenkleidung unter der brütenden Julisonne stehen. Das operierte Auge ist von einer Klappe verdunkelt. Ich erinnere mich noch, wie eine jüngere Schwester mir für kurz die frische Klappe abnahm und mir Tropfen in das Auge tupft. Einen kurzen Augenblick lang sieht das behandelte Auge die Welt in gesäubertem Licht und mit klaren Konturen. Vielleicht werde ich auch nur von der Hoffnung getäuscht. Das Auge ist wiedergeboren. Es werde Licht! – sprach der Herr. Dann klappt die Pflegekraft das Dunkel über das Auge.
Dann stehe ich im Freien und die helle Sonne blendet mich. Die Strahlen der Sonne beunuhigen mich. Ich sehe nur mit einem Auge, das noch vom Star vernebelt ist. Ich bin hilflos und fast blind. Ich habe es eilig nach Hause zu kommen. Ich brauche Schutz vor der feindlichen Außenwelt. Morgen werde ich die Augenklappe ahnehmen und die Welt deutlich und klar sehen.
Am nächsten Tag nehme ich misstrauisch die Klappe ab. Ich bin überwältigt von dem klaren Blau. Habe ich vorher jemals wirkliches Blau gesehen? Die Welt ist eine kristallklare Meeresbrandung. Die vorherrschende Farbe ist nicht mehr das Geklebe aus braun, grün, grau.

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© 2022 Michael Wiedorn (Text & Bild)
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