Von Henning Bruens
„Was bist du doch für ein gewitztes Kerlchen!“, sagte meine Großmutter, wenn sie zu Besuch kam. Früher an den unvermeidlichen Feiertagen. „Schau doch Marianne, wie geschickt er die Gabel hält mit seinen kleinen Fingerchen. Ist unser Henrik nicht ein gewitztes Kerlchen.“ Meine Mutter wollte es nicht glauben, schließlich musste sie sich auch, wenn es nichts zu feiern gab, mit mir, dem vaterlos aufwachsenden Störenfried, abplagen. Mit skeptischer Miene beobachtete sie, wie ich die Spaghetti in mich hinein saugte und schüttelte den Kopf. Die Tomatensauce lief mir über das Kinn, tropfte auf meine Hose und mit der linken Hand, mit der ich soeben versucht hatte, mir den Mund zu säubern, schmierte ich die Tischdecke voll. Zu der Zeit muss ich drei oder vier Jahre alt gewesen sein. Ihr Kopfschütteln brennt noch heute in mir.
Als ich erwachsener wurde, ließ meine Großmutter das heikle Thema fallen. Wahrscheinlich nur, weil ein Erwachsener kein gewitztes Kerlchen sein kann, aber noch wahrscheinlicher, weil selbst sie mit der Zeit begriffen hatte, dass ich es nie gewesen bin, sondern seit jeher niemand anderes war, als der schockgefrostete Typ aus dem Erdgeschoss eines Berliner Seitenflügels, der auch heute am liebsten für sich bleibt und sie im Pflegeheim noch nicht einmal besucht hat.
In der Selbsthilfegruppe für Gehörlose, die ich neuerdings, weil niemand eine Maske tragen muss, einmal die Woche besuche, sitzen zwei Gestalten, die seit Jahren mit keiner Menschenseele ein Wort gewechselt haben sollen. Im Gegensatz zu mir weigern sie sich die Sprache der Gehörlosen zu lernen. Untereinander verständigen sie sich durch Augenkontakt. In ihren Augen lesen sie, was sie zum gemeinsamen Leben brauchen. Die anderen Menschen brauchen sie nicht. Regungslos sitzen sie nebeneinander und schweigen vor sich hin. Das einzige Merkmal, das sie von den Stühlen, auf denen sie sitzen, unterscheidet, ist das beunruhigende Lächeln, das mitunter in ihren leichenblassen Gesichtern aufscheint. Seltsamerweise synchron. Es ist ein höhnisches IchstechdichabdublöderDrecksack-Lächeln und es ist allein auf mich gerichtet. Kein anderer Teilnehmer hat davon je Notiz genommen. Das sagt eigentlich alles, sagte der graubärtige Psychologe, der die Gruppe anleitet, bevor er sich mit den Worten, er wolle noch rasch eine durchziehen, in die Kälte der Nacht verabschiedete.
Vielleicht ist dieses Lächeln der Grund, warum ich mich in letzter Zeit beobachtet fühle. Immer, wenn ich das Haus verlasse, spüre ich unzählige, anonyme Blicke, die mich negativ zu durchdringen scheinen. Aber selbst wenn ich mir mit dem Ärmel meiner Winterjacke über den Mund fahre, um den entlarvenden Staub der Einsamkeit, der sich in meinem Sieben-Tage-Bart angesiedelt haben könnte, wegzuputzen, lassen die Blicke nicht von mir ab. Betrete ich einen Supermarkt, fühle ich mich von allen Seiten ausgefragt, ohne dass ein Wort gesprochen worden wäre. Als wären die anderen Kunden allesamt mit mir verwandt und neugierig auf meine Geschichte. Dabei habe ich nichts zu berichten. Schon lange nicht mehr. Trotzdem durchbohren mich ihre Fragen. Als schlüge mir jemand Nägel aus Eis in den Schädel. Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Erzähl doch mal, was treibst du so? Schreibst du noch? Natürlich nicht. Das war doch eh nichts für dich. Dir fehlte schon immer die Fantasie. Bist du krank? Du siehst krank aus. Ganz blass. Was ist los? Warum schaust du dich so ängstlich um? Hey, wo gehst du hin? Warum lässt mich stehen wie einen Fremden? Ich bin es doch dein… Auch die Blicke der Kassiererin durchbohren mich, während ich nervös Kleingeld zähle. Was will sie bloß von mir? Soll ich schneller machen? Ich versuche doch mein Möglichstes. Aber es genügt nicht. Ich genüge nicht. Es ist kaum zum Aushalten. Ich schaffe es also wieder nicht. Manchmal schaffe ich es nicht und lasse alles fallen. Die Einkäufe, das Kleingeld, mein Leben. Lasse alles fallen, wo ich gerade stehe und renne. Ohne mich umzusehen, die bangen Augen auf den Boden gerichtet. So schnell mich meine Füße tragen. Zurück in meiner ganzjährig sonnenabgewandten Erdgeschossbehausung verrammel ich die Tür mit allen drei Schlössern, stelle meinen Schreibtisch quer davor und ziehe die Vorhänge vor die Fenster. Immerhin vor den marternden Blicken fühle ich mich nun sicherer. Nachts liege ich dennoch wach und überlege, was diese Blicke mit mir zu tun haben könnten. Meistens schlafe ich ratlos ein.
Heute Nacht aber bleibt der Schlaf aus und die Ratlosigkeit ist wacher denn je. Darum stehe ich wieder auf, ziehe mir meine Winterjacke über den Schlafanzug und suche in der kalten, nebligen Nacht nach den Blicken, die mich um den Schlaf bringen. Ich will es wissen. Aber es sind keine Blicke zu finden, niemand ist unterwegs. Nur eine schwarze Katze läuft mir über den Weg. Na gut, das hätte ich vorher wissen können, schließlich sind es drei Grad minus. Ich will schon aufgeben, als ich auf Mike und Jasmin stoße, ein blutjunges, fröhliches Pärchen, das eine Treppe höher wohnt und Hand in Hand über die Lohmühlenbrücke spaziert kommt. Aus einer früheren Begegnung weiß ich von Jasmins Tante in Treptow, die sie öfter gemeinsam besuchen. Mike hat keine Familie in Berlin, womöglich geht er darum gerne mit zur Tante, vielleicht aber auch nur wegen des Schwarzen Afghanen, den die Tante vertickt.
Zunächst beachten mich die beiden nicht, wollen an mir vorbei laufen, als sei ich unsichtbar wie der gemeingefährliche Wissenschaftler aus dem Roman von H.G. Wells. Erst als ich ihnen mit meiner Taschenlampe ins Gesicht leuchte und „Na ihr Räuber“ rufe, bleiben sie stehen. Meine Anrede sollte scherzhaft klingen, aber an ihrer Reaktion merke ich, dass ich selbst diese Kleinigkeit nicht hinbekomme. Sie wirken wie vor den Kopf gestoßen, wie zwei Rehe im Scheinwerferlicht eines heran brausenden Lastwagens. Aber ich brause nicht, ich stehe und quatsche. Ich erzähle ihnen von den Blicken, die mir ständig und überall auflauern, erzähle, dass mich diese Blicke zur Schnecke machen, dass sich mein Leben zu einer endlosen Magenspülung entwickelt und ich mich kaum ins Freie traue, obwohl ich mich nach zwei Jahren mehr oder weniger ununterbrochenem Home-Office in den eigenen vier Wänden so heimisch fühle wie Luke Skywalker in der Szene mit der Schrottpresse in Episode IV. „Auch Knastis haben Ausgang“, schimpfe ich und frage sie allen Ernstes, ob sie auch glauben, dass der fuckin‘ Virus nur in unseren Köpfen existiert.
„Trag doch eine Sonnenbrille“, sagt Mike, als ich in die Knie gehe. Er greift mir unter den rechten Arm und stützt mich, damit ich nicht falle. Ich muss mich auf dem Bürgersteig hinlegen, um nicht vor innerer Anspannung zu explodieren. Ich darf das Atmen nicht vergessen, auf keinen Fall die Atmung außer Acht lassen. Mein Ernährungsberater hat mir das eingeschärft, so scharf wie es Online eben möglich ist. Ich atme ein und aus, ein und aus. Das muss ich mindestens fünfzehn Minuten durchhalten, sonst bringt es nichts. Mike zeigt mir seine Sonnenbrille, die er auch in der Nacht trägt, wie er mir versichert. Mike ist tatsächlich ein gewitztes Kerlchen, denke ich zwischen zwei eisigen Atemzügen. Leider besitze ich keine Sonnenbrille, ich müsste mir erst eine besorgen. Ist das wieder kompliziert! Scheiße! Denke ich. Vielleicht besser eine leihen. Vielleicht wäre Mike so nett? Mike setzt mir seine Brille auf, als könne er meine Gedanken lesen, als sei mein schlimmstes Problem tatsächlich auch sein Problem. Plötzlich bekomme ich es mit der Angst zu tun. Die Finsternis überwältigt mich, nimmt mich ganz in sich auf. Ich werde ein Teil von ihr. Ich verschwinde in ihrer Atemlosigkeit. „Die Sonnenbrille hilft wirklich“, sagt Jasmin mit einem Lächeln in jedem Wort. Ich sehe und höre nichts, außer ihrem Lachen, das sich eilig entfernt.
Mitten in der ewigen Nacht liege ich auf der Brücke und friere. Wie lange schon? Oder noch? Ich spüre etwas Weiches an meiner Wange. Wer streichelt meine Wange? Es ist keine Hand. Jasmin ist nicht zurückgekommen. Wie gern hätte ich ihre Hand auf meiner Wange gefühlt. Ich höre noch ihr Lachen in mir. Ein behaglich zugewandtes Lachen, das ich mir aufheben werde. Für die elenden Stunden der Schlaflosigkeit. Dahinter kommt ein anderes Geräusch zum Vorschein, ein vibrierendes Geräusch übertönt das Lachen. Ich kenne es. Es klingt wie ein Schnurren. Dicht an meinem rechten Ohr schnurrt ein haariges Lebewesen vergnüglich vor sich hin. Ich kann mich nicht bewegen, um nach dem Schnurren zu greifen. Um das Schnurren zu begreifen, muss ich es fühlen. Vielleicht ist es eine Katze. Ich hatte eine Katze. Jahre ist es her. Sie ist mir zugelaufen. Vielleicht ist es die schwarze Katze, die mir begegnet ist. Die Katze streichelt mich weiter. Das Schnurren wird lauter. Mit einem Mal spüre ich ihre Krallen in meinem Arm. Die Krallen gehen durch die Daunenfüllung der Jacke hindurch und verwunden meinen Arm. Als wollte sie mich wecken. Mich wecken, um sie zu füttern. Die Katze, die ich hatte, weckte mich in der Nacht, um gefüttert zu werden. Natürlich habe ich sie nicht gefüttert. Vielleicht war sie darum eines Tages auf und davon. Ich möchte es besser machen. Ich möchte aufstehen und sie füttern. Aber es gelingt mir nicht. Ich kann mich nicht bewegen. Ich muss atmen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Der Katze gefällt das. Ich spüre ihre Krallen in meinem Bauch. Sie ist auf meinen Bauch geklettert und fühlt sich hörbar wohl. Ich genieße dieses Wohlsein. Ich genieße ihre Nahbarkeit, ihre Unbedenklichkeit, ihre bedingungslose Zugewandtheit. Sie fühlt sich nicht fremd auf einem Bauch, sondern heimisch. Auch auf meinem fremden Bauch fühlt sie sich heimisch. Sie spürt die Wärme, die von mir ausgeht. Ich lebe. Sie spürt dieses Leben in mir und kostet dessen Wärme aus. Das ist alles, was sie will. Mehr braucht sie nicht von mir. An diesem kalten Ort ist ihr gut damit gedient. Ich habe etwas zu geben. Ich bin nicht verloren. Ich lebe, um das Leben mit ihr zu teilen. Gleich stehe ich auf und füttere sie. Nur einen Augenblick noch bleibe ich liegen. Nur ganz kurz noch. Dann bin ich soweit.
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© 2022 Henning Brüns
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