Roman mit Todesfolge, Kapitel 12

Von Michael Kothe

Beim zweiten Klingeln stand sie an der Tür, und nach einem Blick durch den Türspion öffnete sie erfreut.
»Gotthilf! Das ist aber eine nette Überraschung. Komm doch rein!«
Noch mehr als sein Erscheinen erstaunte sie sein Bericht. Sie saß im Wohnzimmer auf ihrer Couch und Gotthilf ihr gegenüber auf einem der beiden Sessel. Ihr Angebot, Kaffee zu kochen, hatte er abgelehnt. Ungläubig beugte sie sich zu ihm nach vorn, eine spontane Bewegung vieler Menschen in der irrigen Annahme, dann besser verstehen zu können. Dass ihr augenblickliches Problem zwischen den Ohren lag, erkannte Uschi nicht sofort. Akustisch verstanden hatte sie ihn ja.
Gotthilf berichtete über seine Nachforschungen am Vortag und legte ihr seine neueste Absicht dar. »Wenn schon im Verlag nichts mehr zu holen ist, findet sich vielleicht ein Hinweis in Valentinas Hotelzimmer. Einen Versuch ist es jedenfalls wert. Hast du so etwas wie typische Reisekleidung?«
»Aber, Gotthilf, du hast dich da in etwas verrannt. Meinst du nicht, die Kripo hat das schon untersucht?«

Gotthilf hatte sein fröhlichstes Lächeln aufgesetzt, als er der jungen Dame an der Rezeption im Deutschen Hof antwortete.
»Walter Hellberger und Gattin. Ich hatte vor einer halben Stunde angerufen.«
Wen sie denn eintragen solle, hatte sie gefragt, und spontan nannte er den Namen des Kulturreferenten. Für seine Rolle als Hotelgast hatte er keinen Decknamen vorgesehen. Augenblicke später war die gelöste Stimmung verflogen, als er nicht nur ein Zimmer wollte, wie er bei seiner telefonischen Anfrage formuliert hatte, sondern auf der Suite bestand, in der kürzlich die bekannte Schriftstellerin Valentina Nightingale residiert hatte.
»Die Hochzeitssuite ist noch nicht wieder verfügbar. Die Kriminalbeamten haben sich nicht klar ausgedrückt, ob sie die Räume noch einmal durchsuchen müssen. Also bitte, ich gebe Ihnen gern jedes andere Zimmer, wir sind gerade mal zur Hälfte ausgebucht. Außerdem …« Ein Paar hatte durch die Drehtür das Foyer betreten und sich zu den Fahrstühlen begeben. Die Empfangsdame war rasch aufgestanden und blieb entspannt stehen, wahrscheinlich hatte sie Hotelgäste erkannt. Nun blieb ihr Blick an Gotthilfs Cordhose und an Uschis Reisekostüm hängen, das zumindest nicht mehr der aktuellen Mode entsprach. Wahrscheinlich trug frau ein solches Modell schon seit Jahren nicht mehr. »Wäre nicht ein anderes Doppelzimmer genauso angenehm?«
»Wissen Sie, es ist uns wichtig.« Gotthilf beugte sich nun seinerseits über den Empfangstresen, und seine geschlossene Hand legte sich neben die Klingel. »Meine Frau und ich sind Fans der Autorin, alle Bücher von ihr haben wir gelesen. Und nach ihrer letzten Lesung ist es für uns so etwas wie ein Abschied.« Sein Daumen schob den zusammengerollten Geldschein so weit aus der Faust, dass er nicht mehr zu übersehen war.
Sichtbar irritiert schaute sich die Hotelangestellte um. »Wenn es Ihnen so wichtig ist, kann ich das sicherlich verantworten. Schließlich bin ich auch eine Leseratte und habe Autoren, die mir ans Herz gewachsen sind.« Nach einer halben Drehung und einem Griff ans Schlüsselbrett schenkte sie Gotthilf und Uschi ein aufgesetztes Lächeln und hielt ihm den Schlüssel an einem polierten Messingschild entgegen. »Die Suite befindet sich im zweiten Stock. Genießen Sie Ihren Aufenthalt! Wenn Sie sich bitte noch eintragen wollten! Ihr Gepäck lasse ich sofort …«
»Danke, aber das schaffe ich allein.« Gotthilf grinste, als er auf den Trolley deutete, den er daheim mit ein wenig Kleidung, einem Paar Schuhe und Romanen seiner Jugendliebe gefüllt hatte. Auf das Angebot eines Pagen oder Hoteldieners war er vorbereitet, und seine Finte sollte nicht dadurch durchschaut werden, dass jemand ein leeres Köfferchen aufhob. Er ließ die Banknote los und ergriff den Formularblock. In Druckschrift schrieb er zur Vermeidung von Fingerabdrücken mit seinem eigenen Kugelschreiber eine erfundene Anschrift in die Zeilen.
Uschi hatte sich ein paar Schritte entfernt und interessierte sich scheinbar mehr für die Einrichtung der Lobby als für das Gespräch ihres ‚Gatten‘ mit der Dame an der Rezeption. Ihre besondere Aufmerksamkeit hatten augenscheinlich die schweren Vorhänge gefunden, die in Farbe und Muster mit den Polstern der Sitzgruppen harmonierten. So hatte sie Gelegenheit, sich ein wenig abseits zu stellen und ihr Gesicht vom Empfang abzuwenden. Sie wollte nicht, dass man sich an sie erinnern sollte. Ihr Auftritt war ihr spätestens nach dem kritischen Blick der Empfangsdame peinlich. Nun schloss sie sich Gotthilf an, der den Griff des Trolleys packte und das Köfferchen in Richtung der Aufzugtüren zerrte. Aus dem Augenwinkel hatte sie gesehen, wie er den Geldschein neben dem Anmeldeblock liegenließ und wie die Angestellte ihre Hand darauflegte.

»Der Blick ist atemberaubend!«
Mit diesem Anflug von Romantik hatte Gotthilf Uschi überrascht, wenn er auch gleich darauf nüchtern den Zweck ihres Hierseins betonte: »Wo fangen wir an?« Nachdem er sich vom Fenster abwandte, schwang er den Koffer aufs Bett, zog den Reißverschluss auf und kramte eine Taschenlampe hervor. Schon lag er auf den Knien, beugte sich ganz nach unten und leuchtete unters Bett.
»Wonach suchen wir überhaupt?«
Uschis Frage blieb vorerst unbeantwortet.

»Gotthilf, was ist das?«
Mit zwei Fingern streckte Uschi Gotthilf eine winzige Schachtel aus transparentem Weichplastik entgegen.
Bäuchlings neben der Heizung liegend hatte er die Kante entlang der Fußleiste und den Saum der Vorhänge inspiziert sowie den Heizkörper selbst, nun richtete er sich auf die Knie auf. »Wo hast du das her? Sieht aus wie …«
»Aus der Schublade vom Nachttisch. Lag neben der Heiligen Schrift.«
»Klar, die darf in keinem Hotelzimmer fehlen. In Zeiten politischer Korrektheit gehören aber noch der Imam und der Talmud daneben, zusammen eine kleine Bibliothek! Die Schachtel ist ein Etui für eine Speicherkarte, also für einen externen Datenträger eines Computers.«
»Du meinst sicherlich den Koran und die Thora, aber was viel wichtiger ist, …« Sie ging in die Hocke und hielt ihm den Fund direkt unter die Augen. »Ist es das, wonach wir suchen? Du sagst, es hat was mit Computern zu tun.«
Ruckartig setzte er sich auf und rieb sich die Schulter, mit der er an der Heizung entlanggeschrappt war. Das Schächtelchen nahm er ihr aus der Hand und beäugte es von allen Seiten.
»Wenn es wirklich mit Valentina zu tun hat, wissen wir nun, wonach wir suchen müssen. So eine Speicherkarte, wie sie üblicherweise hierin aufbewahrt wird, ist etwa briefmarkengroß, meist schwarz und ein bis zwei Millimeter dick. Eine Ecke ist abgeschrägt, und am unteren Rand …«
»Also suchen wir eine schwarze Briefmarke, der eine Ecke fehlt? Na toll! Es ist ja auch nur eine kleine, halbleere Stube und keine Suite mit einem Schlafzimmer, einem Wohnzimmer und mit Bad und Balkon!«
Ihren Sarkasmus deutete Gotthilf als Zeichen der Resignation. »Schau, zumindest ist es ein Anfang. Gehen wir einmal davon aus, dass Valentina die Speicherkarte verstecken wollte! Vielleicht misstraute sie ihrem Begleiter, und es musste schnell gehen, weil er an der Tür geklopft hatte, um sie abzuholen. Dann wird die Karte ganz in der Nähe zu finden sein. Das sagt mir mein Bauchgefühl.«
Aufgemuntert fühlte sie sich anscheinend kaum, denn ihr Kommentar klang eher trotzig. »Bauchgefühl? Ist das das Gegenstück zu weiblicher Intuition? Und was ist, wenn sie die Karte mitgenommen hat? Sofern es überhaupt ihre war!«
In der Zwischenzeit hatte er sich vom Boden an den im Bettüberbau integrierten Nachttisch herangerobbt. Nun richtete er sich halb auf, seine Finger fuhren die Kanten des Kopfendes und seiner Anbauten nach. Er stutze, beugte sich ganz über den Nachttisch, presste seine Schläfe an die Wand und schielte an der Tapete entlang in den Schlitz zwischen Wand und Bett.
»Uschi, reichst du mir bitte mal die Taschenlampe und holst mir aus dem Koffer das flache Messer mit dem Haken am Ende?«

»Sie wollen schon auschecken? Dabei waren Sie gerade einmal zwei Stunden im Hotel, Herr Hellberger!« Unverständnis schwang in der Stimme der Rezeptionistin mit, ihr Kopfschütteln war noch deutlicher.
»Nun ja, auch uns tut es sehr leid, dass wir nicht länger bleiben können. Gern hätten wir den Aufenthalt genossen und abends auf dem Balkon aus den Büchern der Nightingale gelesen. Aber ein dringender Anruf verlangt unsere sofortige Abreise. Ein Trauerfall in der Familie meiner Frau, ein schrecklicher Unfall. Für den kurzen Aufenthalt müssen wir doch wohl nichts bezahlen, oder?«
Kaum hatte Uschi den Fahrstuhl verlassen, stand sie schon halb in der Drehtür, um Gotthilf bei der fluchtartigen Abreise nicht im Weg, sondern ein paar Schritte voraus zu sein.
Ganz ungeschoren kam er dann doch nicht davon. Obwohl er annahm, dass die Empfangsdame – vielleicht unter dem Einfluss des Trinkgelds, das er ihr beim Einchecken überlassen hatte – sich kulant verhielt. Zumindest, wenn er sich die Bestimmungen ausmalte, die in einem Hotel dieser Kategorie wohl galten.
»Fünfzig Euro für die Reinigung der Suite muss ich aber doch verlangen.«

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© 2022 Michael Kothe
Alle Rechte vorbehalten

Der Text ist eine Leseprobe aus Kothes erstem Kriminalroman Roman mit Todesfolge, erschienen im Mai 2022 beim Telegonos-Verlag (ISBN: 978-3-946762-68-3). Die Reihe um Gotthilf Leberecht wird fortgesetzt.