Von Mario Nater
Ob ich mir vorstellen kann, von hier wegzuziehen, hatte Tara in der Nacht wissen wollen, als wir Hand in Hand durch die Straßen liefen. Rein perspektivisch natürlich. Wir redeten, als hätten wir es immer getan, doch mit dieser einen Frage hatte ich nicht gerechnet. Ich musste scharf nachdenken, bevor ich nickte. Sie ahnte natürlich nichts vom Ausgang der Matheklausur, woher auch. Sagen konnte ich es ihr nicht.
Als ich ihr dieselbe Frage stellte, lachte sie verlegen. An sich ja, sagte sie und war plötzlich mitten auf der Straße stehen geblieben; das sei so eine Sache. Vor knapp einem Jahr hätte sie für sich einen Schlussstrich gezogen. Das Unentschiedensein darüber, wie es in ihrem Leben weitergeht, sollte ein Ende haben. Aber bewirkt hätte das wenig, ich sehe ja selbst. Sie hätte immer gedacht, erstmal abwarten, was wird – jetzt stehe sie hier, in derselben Stadt, ohne einen Entschluss gefasst zu haben, soll sie dableiben oder doch besser gehen, machen, wonach ihr immer war, in einer neuen Umgebung. Ihr Lebensziel sei es immer schon gewesen, von hier wegzukommen, tja. Irgendwas hielt sie hier offenbar, wobei von Freunden oder einem stabilen Umfeld, von Familie, einem Rückhalt, könne da keine Rede sein. Dieser eine Satz, von ihr ausgesprochen, überraschte mich.
Seitdem, seit – du weißt schon, sagte sie, wäre sie am Überlegen, was sie machen soll. Schwierig. Der unerwartete Tod habe sie nachdenklich gemacht. Die Stadt sei ein Ort, an dem viel Raum für Zweifel sei, dessen hatte sie sich selbst erst bewusstwerden müssen. Die Stelle im Altenheim, schön, zumindest vorübergehend ein Grund mehr, nicht wegzuziehen, auch aus finanzieller Sicht. Aber ob es das ist, was sie die nächste Zeit über machen will? Sie hob die Achseln. Der Punkt sei, sie hätte sich über die Jahre genug Gedanken über ihr Leben gemacht, von wegen Studium und so, und im kommenden Semester hätte sie sogar ernsthafte Aussichten auf einen Studienplatz. Dann könnte ihr langgehegter Traum, Medizin zu studieren, endlich in Erfüllung gehen. Sollte sie weiter darauf hinarbeiten, um den Menschen eines Tages tatsächlich einmal die Ärztin zu sein, die sie sich immer gewünscht hatte zu sein, und nicht mehr nur eine Pflegekraft? Eigentlich sollte sie das doch motivieren, allein die Vorstellung, endlich kann es klappen, eine unglaubliche Chance. Sie sagte es mit einer ungewöhnlichen Leidenschaft. Um den berühmten weißen Kittel ginge es ihr gewiss nicht oder ums spätere Gehalt. Auch wegen – ja, naja. Wieder lebendig macht das ihre Oma natürlich nicht. Aber wenn sie sich weiter so treiben ließ…
Sie stockte. Sie konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Und indem sie auf den Asphalt starrte ein tiefer Seufzer: Keine Ahnung, was danach. Sie habe manchmal Angst, in Stücke zu zerfallen, sagte sie, oder sie merke, es kostet sie viel Kraft, es nicht zu tun. Vielleicht kenne ich das ja von mir selbst.
Noch trete sie unaufhörlich auf der Stelle und käme einfach nicht voran. Sie sähe ein, dass das alles eine Frage der Einstellung sei, und mit ihrer wäre sie, ehrlich gesagt, nicht sehr zufrieden. Sie glaube, es könnte um ein Vielfaches einfacher sein, wenn man nicht ständig nach links und rechts schauen würde. Da sei immer so ein Missverständnis, zu verstehen, was möglicherweise hilft, sprich wer einem eine wirkliche Unterstützung ist oder werden kann, um den Knoten im Kopf zu entwirren, eine Stütze, wenn man`s allein schon nicht schafft.
An sich zu zweifeln, das sehe sie ja ein, wäre wenig sinnvoll. Weiter käme man dadurch nicht unbedingt, was in letzter Konsequenz bedeutet, dass man über Kurz oder Lang nur umso unglücklicher wird.
In meinem Kopf rotierte dieser eine Satz seitdem unaufhörlich.
Bringt doch alles nichts, seufzte Tara nach einem kurzen Schweigen. Mit Augen, die unterdessen zu Schlitzen geworden waren, beugte sie sich vor: Vielleicht wäre, sich das Rauchen abzugewöhnen, ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Ihre Stimme war mädchenhaft geworden, unentschlossen, verträumt. Würde ihr nur jemand eine grobe Richtung vorgeben, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Ihre Gedanken kreisten ständig darum, der Stadt endlich den Rücken zu kehren, ja und dann? Das garantiert nichts.
Sie gab sich schließlich einen Ruck und sah wieder zu mir auf: Wer weiß, noch ein Jahr? Für Kleinstädte könne sie sich allerdings kaum erwärmen. Das kam mir bekannt vor.
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