Zartfühlend möchte ich sein, freundlich und liebevoll, dachte Paul Botticher wieder einmal. Die Nächte waren die Hölle, da sie von der allabendlichen, medikamentösen Vergiftung eingeleitet wurden und nicht vergehen wollten. Am Morgen, sagte sich Botticher, wenn im Mai die Blau- und Kohlmeisen vor meinem halb geöffneten Dachfenster tschirpen, dann geht es mir meistens schon besser. Dennoch; die Härte der frühen Morgenstunden, die dämonischen, gegen Mitternacht einsetzenden Gesichte, die blitzartig aufflackernden Bilder von blutigen Geschehnissen, der Kampf mit der eigenen Rohheit und der Brutalität meiner Gedanken – all das bildet eine Kontamination, eine seelische Intoxikation, der ich niemals entkommen werde. Ich bin ein Teil dieser Welt, sprach Botticher beinahe stumm, ich bin derjenige, den seine Umgebung erledigt hat.
Und hier stehe ich, hier sitze und liege und kauere ich, nach wie vor, um das Ende herbeizusehnen. Ich bete um die Erlösung, flehe um den Schlüssel zur Ausgangstüre.
Botticher hockte dichtend an seinem Arbeitstisch, einem grob geschnitzten, schweren Eichenholzmöbelstück, welches ihn zeitlebens begleitet hatte. Halt! Weit war Botticher nicht gekommen, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne. Botticher hatte sich immer mehr zurückgezogen, sich ein geistiges Reich aufgebaut, und sich verausgabt, sich über die Maßen lächerlich gemacht mit seinen Poemen. Ruhm und Erfolg hatte er sich immer gewünscht, Welterfolg und materiellen Wohlstand. Paul Botticher, der Weltliterat. Und nun, wo er einigermaßen erfolgreich war, wo er sich um das Geld im Grunde nicht mehr zu sorgen brauchte, da war Botticher, der gedrungene, feiste, schwitzende Poet der Schlachthöfe, unzufriedener denn je. Er roch nach derber Mettwurst, worüber er sich nicht wunderte. Zwar frönte Botticher seit Jahr und Tag dem Vegetarismus. Trotzdem stank er nach geräuchertem, zerkleinertem Schweinefleisch. Den Gestank, den Fleischesser als köstliche Duftnote bezeichnen mögen, den Geruch nach Tod und Kadavern, brachte Botticher jeden Tag aus der Fabrik mit nach Hause, in seine winzige Dachgeschosswohnung.
Nicht nur äußerlich und also phänotypisch bin ich abstoßend, dachte Botticher, auch vor meiner stubenwarmen, schmeißfliegenartigen Innerlichkeit schrecken die Menschen zurück. Ich habe mich selbst zu verantworten, denn ich habe mich eigenhändig und anhand von eigenen Worten in dieses Ungeheuer verwandelt, habe mich veräußert, mich verraten und dennoch die Wahrheit verbreitet.
Seine Gedichte spiegelten den harten, monotonen Alltag des ungelernten, in der Fleischindustrie beschäftigten Arbeiters wider. Im Rahmen seiner poetischen Imaginationen, innerhalb der Grenzen seiner lyrischen Länder und selbsterschaffenen Staaten, kamen Hoffnung und Liebe selten vor. An welcher Stelle hätten Zartheit und Sanftmütigkeit auch ihren Platz finden können? Dafür gab es kaum einen Raum.
Desperat, hoffnungs- und lieblos sollten seine Werke ausfallen; er hatte es immer so gewollt. Von ganz unten, aus dieser gnadenlosen Perspektive heraus, schrieb Botticher, am Bodensatz der Gesellschaft, da lebte, fühlte und litt der grobschlächtige und doch so überaus sensible Fließband-arbeiter.
Zack, zack. Unablässig drang das gehackte, feingeschnitzelte Schweinefleisch – in Wahrheit handelte es sich um sogenannten Sehnenbrei – aus der metallenen Röhre. Ohne Pause, unausgesetzt drückte Paul den Darm auf die Öffnung, aber nicht zu lang und nicht zu kurz. Sonst konnte aus den Würsten nichts werden. Ein nicht enden wollender Darm, vom Schaf, glitt durch die zu Fäusten geschlossenen Hände des Mannes, der nach Feierabend seine Impressionen in die alte IBM-Schreibmaschine hackte. Nicht, weil er ein Exzentriker war, sondern weil er keinen Computer besaß. Weil er im Grunde nichts besaß, abgesehen von seiner betörenden, radikalen und abstoßenden Poesie, die doch so grazil und subtil ausfallen konnte, an manchen Tagen.
Keineswegs hatte Botticher damit gerechnet, dass jemand seine Frikadellenlyrik, seine Sülzesätze, wie er sie liebevoll nannte, lesen wollen würde. Er hatte nichts erwartet, einerseits. Zum anderen strebte er dennoch nach Weltruhm, nein, nach noch Höherem, nach Unsterblichkeit. Er war der festen Überzeugung, dass sein unabdingbares Leid eines fernen Tages mit einer goldenen Krone aufgewogen werden würde. Das schwere Metall sollte ihn für all die Zumutungen entschädigen. Wenn es eine höhere Gerechtigkeit gab, und daran glaubte Botticher fester denn je, würde er einst auf grünen Auen mit den antiken und auch postmodernen Poetinnen, Denkern, Philosophinnen wandeln und klares Wasser aus dem Lethe-Fluss trinken. Mit Hölderlin, Novalis, Ingeborg Bachmann, Demokrit, Susan Sontag, mit Thomas Mann und Charles Bukowski würde er einst auf den Sieg über Leid und Zeit anstoßen.
Doch vorerst hatte seine verschwindende, unsichtbare Seele das Körpergefängnis nicht verlassen können. Nur zu kurzen Expeditionen ins Nichts war der feinstoffliche Teil seines Ichs aufgebrochen, in düsteren Vollmondnächten, wenn die seelische Pein am größten und gnadenlosesten war. Wer quälte ihn dermaßen unerbittlich, diese bange Frage hatte sich Botticher schon oftmals gestellt, zu Gott gebetet und keine Antwort erhalten. Liebe, dieses verhexte Spiel auf der zwischenmenschlichen Ebene, fand hier nicht statt. Die Liebe war pervertiert worden, durch Medien, Popmusik und banale Literatur. Für Botticher gab es faktisch keinerlei Liebe, er inhalierte nach Rinderblut stinkende Luft, den ganzen Vormittag, Mittag, den halben Nachmittag lang. Nie entstanden Pausen, Erholung kam nicht vor. Dabei hatte Botticher alles Mögliche versucht, hatte meditiert, kontempliert, sich betäubt, hatte gehungert und auf Getränke verzichtet, trotzdem hatte sich ein, wie er es bezeichnete, sakraler Effekt nicht einstellen mögen. Aber Botticher gab nicht auf, er glaubte und glaubte und glaubte. Er betete mit aller Macht, sobald er seine fiebrig heißen Lippen versiegelte. Und da er so gut wie nie sprach, betete der immer noch Zweifelnde in einem fort. Seine Seele, davon war er überzeugt, befand sich bereits ins Gottes Reich. Das Problem bestand in seiner weiterhin andauernden Körperlichkeit, seinem alltäglichen Bad im Fleische.
Ich bin ein Tier, dachte Botticher, als er mithilfe eines Hochdruckreinigers seine mit Blut und Darmresten verschmutzten Gummistiefel reinigte. Das Wasser war mit Desinfektionsmitteln versetzt und roch nach Jodtinktur. Dieser Kindheitsgeruch mischte sich mit dem Dunst der getöteten Schweine, Rinder, Hühner. Mutter hatte die Wunden des kleinen Pauls einst gereinigt und desinfiziert. Einmal war er von seinem Kaninchen Peterchen gebissen worden. Danach hatte Paul Botticher das Geschöpf mit den langen Ohren und den schwarzen Knopfaugen gefürchtet und dann auch verabscheut. Mit Genugtuung vernahm er die Ankündigung seines Vaters, eines ausgebildeten Metzgers, dass Peterchen schlachtreif sei. Als der hochgewachsene Herbert Botticher, dessen Sanftmut seinem Beruf zu widersprechen schien, das Kaninchen mit einem Holzscheit totschlug, bereute Paul seine unmenschlichen Gefühle und Wünsche. Schockiert sah er zu, wie das Tier zuckte, blutete und schließlich für immer zur Ruhe kam. Sein Vater Herbert war ein weiser Mann, dessen moralische Wertmaßstäbe seinen Sohn Paul schon früh beeindruckten. Wer Tiere essen wolle, so der Schopenhauer liebende Freizeitphilosoph, der müsse sie auch töten können.
Bis heute glaubt Botticher, dass seine animalische Existenz eine Strafe Gottes sei. Sieht er sich im zersplitterten Badezimmerspiegel an, und erblickt das verhasste und gefürchtete Gesicht, die Physiognomie eines Schweins, dann weiß Botticher um seine Schuld. Er bedauert die Lebewesen, die von seiner Hand sterben mussten. Im Minutentakt tötete Botticher einst die intelligenten Vierbeiner mit dem Ringelschwanz. Ohne groß darüber nachzudenken, drückte er das Bolzenschussgerät an die Stirn der vor Panik schreienden Sauen und Eber, die intuitiv genau wussten, was ihnen drohte. Durch den ins Gehirn eindringenden Bolzen betäubt, bekamen die Schlachttiere im Idealfall nichts davon mit, wenn Botticher und seine Kollegen ihnen mittels eines Messers die Schlagadern auftrennten, um sie letztendlich zu töten. Manchmal war ihm zumute, als seien die Seelen der Tiere, von denen sein Vater immer gesprochen hatte, direkt in seinen eigenen Leib gefahren und hätten ihm nach und nach das Äußere eines grunzenden Ebers verliehen.
Bin ich ein Schwein, weil ich jahrzehntelang ein Diener des Todes gewesen bin? Botticher wusste es nicht. Aber er erinnert sich genau an den Tag, an dem er das Betäubungs-instrument niederlegte. Wieder einmal hatte er ein Schwein nicht richtig erwischt, mäandernd und brüllend vor Pein zappelte es manisch. Es gelang dem Säugetier, seine Zehen zu lösen und sich so vom Kettenfließband zu befreien. Halb betäubt und trunken vor Schock, ging die Sau auf Bottichers Kollegen los. Der kräftige, verzweifelt um sein Leben kämpfende Fleischer starb auf der Stelle, während seine Kollegen das entkommene Tier einfingen und es mit langen Klingen geradezu hinrichteten. Ein regelrechtes Blutbad fand statt.
Im Rahmen der Beerdigung erfuhr Botticher dann eine Läuterung. Nie wieder würde ein Tier von seiner Hand sterben, das schwor er sich. Dennoch musste der nun dem Vegetarismus Frönende Geld verdienen, um sich auch weiterhin der Poesie widmen zu können. Er blieb in der Wurstfabrik, denn er konnte nichts anderes. Als ungelernte Kraft arbeitet er nun in der sogenannten Hausfrauenschicht. Seine Kolleginnen mögen ihn und die schmalen Büchlein, die er ihnen schenkt. Paul Botticher ist mittlerweile ein deutschlandweit bekannter Poet, der Dichter der Schlachthöfe. Aus seiner Dachgeschosswohnung zog er aus, kaufte ein Fachwerkhaus in der westfälischen Provinz. Auf moralischer Ebene eifert er seinem integren Vater Herbert nach. Das Tierblut, das an seinen Fingern klebt, verwandelt Botticher in Gedichte, die selbst vom Feuilleton gelobt werden. Botticher, der sich selbst als poetisches Nutztier betrachtet, wurde zu einem glücklichen Menschen. Immer noch geht er täglich in die Fabrik, um Würste herzustellen. Nach Feierabend dichtet er dann stundenlang. Das Schweinische, das ihm zu eigen ist, verschwindet mehr und mehr. Aus dem Tiere tötenden Ungeheuer ist ein filigraner Lyriker geworden, der seine Mitmenschen nicht verurteilt. Vielmehr beobachtet er sie, bewertet sie nach ihren Taten. Dass er jemals wieder einen Schlachtschlussapparat betätigen wird, schließt Botticher kategorisch aus. Indes ist sein Respekt für die hart arbeitenden Schlachterinnen und Metzger geblieben. In seinen Versen setzt er den einfachen Menschen Denkmäler. Und dennoch weiß und predigt Botticher, dass jede Frau und jeder Mann zu jeder Zeit umkehren können. Entscheidungen seien nicht in Stein gemeißelt und dürften revidiert werden, betont der Poet heute, wenn er seine Werke vorträgt. Oftmals kommt ihm dabei sein Vater Herbert in den Sinn, den Schopenhauer-Leser. Herbert Botticher, der zeitlebens den Metzgerberuf ausübte, zitierte immer wieder einen Satz des aus Danzig stammenden Tierethikers: Wer gegen Tiere grausam ist, kann kein guter Mensch sein.
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© 2023 Jens-Philipp Gründler
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