Wärmeschauer durchfuhren Margret, als sie ihrer über alle Maßen geliebten Frau Roberta dabei zusah, wie sie die Hunde fütterte, auf der ausladenden Wiesenfläche ihres Gartens. Sie bedeutet mir immer noch alles, dachte Margret und setzte ihren Gedankengang fort. Meine Liebe zu Roberta wächst sogar weiter und weiter, das kann ich mir kaum erklären. Die Frauen waren in den letzten Jahren erheblich gealtert, beide hatten inzwischen das achtzigste Lebensjahr hinter sich gelassen. Und doch lebten sie unabhängig von ihrer Umwelt, nicht aber von ihrer sozialen Umgebung. Margret bewunderte Roberta dafür, dass sie vor etwa zwei Dekaden alles hingeworfen hatte. Damals war Roberta nicht einmal krankenversichert gewesen und lebte in Armut. Ihre Verwandtschaft rümpfte die Nase, die Nachbarn schüttelten mit dem Kopf, wenn sie der Lebenskünstlerin begegneten. Eine Überlebenskünstlerin, eine echte Artistin, das hatte Roberta immer sein wollen.
Margret schälte eine Ingwerwurzel, schnitt sie in dünne Streifen, um sie ins kochende Wasser zu werfen. Das schmackhafte Ingwerwasser würzte die stämmige, kurzhaarige Frau noch mit Waldhonig. Vor einem Jahrzehnt hatten Roberta und Margret geheiratet, und sich damit ihren Herzenswunsch erfüllt. Stolz waren sie damals aus dem Standesamt gekommen, wo ihre Freundinnen und Gefährten warteten, um das glückliche Paar mit Rosenblüten zu berieseln. Gern erinnerte sich Margret an diesen besonderen Tag zurück. Roberta hatte die Fütterung der Bestien, wie sie immer im Scherz sagte, abgeschlossen und tollte nun mit den drei irischen Settern auf dem von der Sommersonne versengten Gras herum. Margrets Herz schlug schneller, ohne dass sie es wollte. Voller Zuneigung beobachtete Margret das Spiel der Geliebten und der treuen Hunde, deren glattes, fuchsrotes Fell die Lichtstrahlen wie durch ein Reflexionsprisma zurückwarf.
„Etwas ganz Zartes, Besonderes, Schützenswertes möchte ich schaffen“, hatte Roberta seinerzeit zu Margret gesagt, bevor sie ihren Lehrerjob an den Nagel hängte. Sie war sich in jener Zeit noch nicht sicher gewesen, was sie da kreieren wollte, und auf welche Weise. Es sollte aber etwas Außergewöhnliches, Geheimnisvolles sein. Margret sann gern über den damaligen Enthusiasmus ihrer Lebensfrau nach. Niemals hatte sie sich gesorgt, dass Roberta ein so hochgestecktes Ziel vielleicht nicht würde erreichen können. Keine Sekunde lang hatten die verheirateten Frauen gezweifelt. Zweifel, dieser fatale Zustand der Unsicherheit, stellte für das Paar Grenzen im Denken und Fühlen dar. Roberta betonte stets, sie habe in ihrem Leben genügend Zweifel walten lassen. Jetzt sei es an der Zeit, diese Hindernisse zu überwinden, jegliche den Geist verkrüppelnden Ängste müssten verjagt werden.
Roberta war immer die Stärkere gewesen, sprach Margret zu sich selbst; ohne ihren Mut wäre auch sie, die Zaudernde, Ängstliche, nicht dort angekommen, wo sie sich heute befand. Das Paradies auf Erden, nichts Geringeres hatte Roberta der heiß Geliebten versprochen. Buchstäblich geschworen hatte Roberta auf das Leben ihrer seinerzeit schon in den hohen Neunzigern befindlichen Mutter. Gertrud, die während ihrer Ehejahre äußerst konservative und bürgerliche, beinahe reaktionäre Positionen vertreten und zumeist auf ihren Ehemann Paul gehört hatte, war nach dem Tode des als Versicherungsvertreter tätigen Gatten eine Art Schockkur widerfahren. Spät, aber noch rechtzeitig, hatte Roberta ihrer Mutter Gertrud davon berichtet, von dem Unmöglichen, Unsagbaren. Eines Nachmittags im verschneiten Monat Januar war die stolze Tochter mit ihrer Partnerin Margret bei der alten Frau aufgetaucht. Es gab Blätterteigkekse, starken Assam-Schwarztee mit Kuhmilch und ebenso starke dialogische Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Tochter. Margret ließ das streitende Duo zunächst außen vor. Während sie disputierten, entdeckte Margret Gertruds Kollektion von Masken und berührte ein besonders schönes Exemplar mit der Fingerkuppe. Vermutlich venezianischer Herkunft, versinnbildlichte dieses lachende und zugleich weinende Gesicht Gertruds Lebensmotto.
Am Abend, die Drei hatten sich in den vom Schnee geweißten Fichtenwald begeben und waren in der Glutröte des Sonnenuntergangs heimgekehrt, überwältige jede der drei Frauen eine nie zuvor gefühlte Erschöpfung, die wohl vom intensiven Trialog herrührte und Margret, Gertrud und ihre Tochter mit einer tief empfundenen Zufriedenheit erfüllte. Die Damen hatten Frieden geschlossen und sich zum Abendbrot Leberwurstbrote und nervenberuhigenden Pfefferminztee, dezent gesüßt, zu Gemüte geführt. Gertrud ging sogar ihrer alten, liebgewonnenen Gewohnheit nach und entzündete mithilfe eines Fidibus ihre majestätische Billard-Pfeife. Es dauerte, bis der Tabakqualm durch den langen Hals des Rauchgeräts in Gertruds Kehle und schließlich in die Lungen gelangte.
Die Frauen bildeten eine klassische entente cordiale, nahm an diesem Abend doch eine durch widersprüchliche Meinungen und rhetorische Konfrontationen gestärkte Freundschaft ihren Anfang. Die Schule des eifrigen Disputs hatte in den Herzen des Trios ihre Türen geöffnet und drei gelehrige Schülerinnen willkommen geheißen.
Wehmütig rief sich Margret die gemeinsam mit Gertrud und Roberta verbrachten Stunden und Tage ins Gedächtnis, um festzustellen, wie sich ihre Augenwinkel mit Tränenperlen füllten und die salzige Flüssigkeit schließlich ein dichtes, glänzendes Netz auf ihren geröteten Wangen bildete. Es war wie verhext. Sobald sie an ihre Frau und deren gutherzige Mutter dachte, wurde Margret von einem speziellen Gefühl erfasst, welches schwer erklärbar war. Einerseits empfand die immer noch als Nachhilfelehrerin aktive Vierundachtzigjährige eine wohltuende, ihren Solarplexus reizende Wärme, die sie mit bedingungsloser Liebe gleichsetzte. Zum anderen verspürte Margret aber auch eine Art sakraler, sie zu Kirchgängen verleitender Traurigkeit. In der kleinen Kapelle des Ortes Horstenfried, wo Roberta und Margret in einem einfachen Fachwerkhaus lebten, sah man Letztere häufig. Jedoch mied sie in der Regel die Messen, um aber in der Stille das menschenleere Gotteshaus aufzusuchen und ihre wohligen Gedanken an Gertrud Revue passieren zu lassen. Rosige Bilder umschmeichelten ihren aufgeriebenen Geist, Erinnerungen an die Blumengärten von Robertas Mutter. Wie oft hatten die drei Frauen hier Backgammon gespielt, während drei aufgeweckte, rotzfreche Irish Setter-Welpen ihrem harmlosen, kindlichen Spiel im angrenzenden Maisfeld nachgegangen waren.
Herrlich! Margret sagte jeden einzelnen Buchstaben dieses, ihres Lieblingsworts für sich auf, spitzte ihre Lippen und formte sie dann zu einem O. In Gedanken versunken, vernahm sie nun ein rhythmisches Klopfen an der Haustüre, welches sie aus ihrem träumerischen Schlummer herausriss, indes auf angenehmem Wege.
Jo, ihr neunjähriger Schüler, war angekommen, nachdem er ausgiebig mit den energischen Vierbeinern herumtollte. Aufgeladen von der hündischen Kraft, ihrer freundlichen, demütigen Arglosigkeit, wollte Jo die bewunderte Lehrerin geradezu herzen. Doch Margret wies den allzu dreisten Knaben mittels einer freundschaftlichen, aber doch strengen Geste zurecht.
„Guten Tag, liebe Frau Margret!“, rief Jo und versuchte, die Schamesröte in seinem Gesicht mithilfe seiner Handflächen zu verbergen.
„Du musst dich nicht schämen, lieber Jo“, sprach die vom Schüler Angehimmelte, „es freut mich außerordentlich, wie gut du es mit mir und den Hunden meinst. Das ist kein Grund für eine Verwirrung der Gefühle.“
„Es ist gut, ich danke ihnen recht herzlich“, erwiderte der nun erleichterte Schüler, als auch Roberta die von rußgeschwärzten Holzbalken gekrönte Küche betrat und die Türe schloss, um die vor Energie überschießenden Hunde zu mäßigen.
Roberta trug ihre Arbeitskleidung, und Jo war ganz entzückt vor Freude, als er die Plastikblume am Revers der Clownin drücken durfte, woraufhin ein dünner, kaum sichtbarer Wasserstrahl auf seiner Nasenspitze landete. Jo liebte diesen uralten Gag, und verfügte über einige eigene Scherzartikel, die zum Großteil aus dem Fundus von Roberta stammten. Aber auch von seinem Taschengeld hatte sich der Junge ein Pupskissen, einen milde Elektrostöße erzeugenden Arm und Kapseln gekauft, die eine blutähnliche Flüssigkeit entstehen ließen, sobald man sie zerkaute. Wasserpistolen, eine rote, quäkende Geräusche von sich gebende Clownsnase, überdimensionierte gelbe Schuhe, gigantische Micky-Maus-Ohren und vergleichbare Artikel erwarb Jo mit großem Elan und einer unbändigen Sammlerleidenschaft. Hatte er seine Sache in der Schule besonders gut gemacht, dann schenkte ihm die vor allem in Krankenhäusern tätige Clownin regelmäßig ein neues Gimmick für seine Sammlung.
Verliebt wie am ersten Tage verabschiedeten sich Roberta und Margret voneinander, stand doch ein Besuch auf der Kinderkrebsstation des lokalen Hospitals auf dem Programm. Mittlerweile konnte die Clownin von ihrer karitativen Tätigkeit gut leben. Ihr Publikum, in erster Linie Kinder und Alte, liebten es, wenn Roberta über ihre allzu großen Schnürschuhe stolperte, oder in andere tragikomische Situationen gelangte. Am Bett eines todkranken Mädchens, wo Sanftmut und Stille angebracht waren, da strich die erfahrene Clownin dem sterbenden Wesen mit einer weichen Feder über das Gesicht, um die Tränenrinnsale wegzuzaubern, wie sie sagte. Während Margret mit Jo Prozentrechnen und Wurzelziehen übte, tröstete Roberta die dem Tode geweihten, winzigen Geschöpfe. Sie nahm ihnen die Angst vor dem Abschied von der Erde, indem sie immer wieder erklärte, dass der Sterbeprozess dem Durchschreiten eines Portals glich, hinter welchem das Schönste wartete, was die Kleinen je empfunden hatten. Roberta taufte diesen himmlischen Zustand die heitere Traurigkeit, und die dem Tode Nahen verstanden sofort, was die gutmütige Gauklerin meinte. Denn die Schwere ihrer Erkrankungen hatte aus den Kindern Weise werden lassen, Lebensphilosophinnen und mutige Kämpfer, die weder Tod noch Teufel fürchteten.
Die heitere Traurigkeit, auf diesen Nenner brachte auch Margret den Kern des romantischen Daseins, welches sie mit ihrer Geliebten teilte. Indem er die Hunde mit drei fabrikneuen Tennisbällen beschenkt hatte, war Jo vom Lernen ermüdet heim gegangen. Dort wollte er seinen Eltern davon berichten, was er wieder erlebt hatte, bei den mildtätigen Frauen. Ein wenig verstimmt war der Junge, der am Tag zuvor ein sehr gut in der Grammatik erhalten hatte, denn Roberta hatte ihm nicht, wie eigentlich üblich, ein Geschenk überreicht. Bevor Jo seinen Grimm weiter auszubauen vermochte, legten sich zwei in weißen Seidenhandschuhen steckende Hände über seine Augen. Sogleich wusste der intelligente Knabe, dass die Clownin ihm einen Streich spielte. Dementsprechend stieg er in die Komödie ein und beklagte sich über die frühe Dunkelheit. Daraufhin betätigte Roberta ihr antikes Posthorn, um sich bei Jo zu entschuldigen.
„Ich habe dich nicht vergessen“, erklärte die Frau mit dem weißgeschminkten Gesicht und der roten Knollennase.
„Was ist es, was ist es?“, wollte der forsche Jo sofort wissen.
„Pst“, zischte Roberta und legte dem bald Zehnjährigen eine Maske aus Porzellan über das Gesicht. Dabei sprach sie: „Pass gut darauf auf!“
Freudig erregt, vergaß Jo sogar, sich zu bedanken und lief maskiert nach Hause. Milde lächelnd blickte ihm Roberta nach, um das knarrende Gartentor zu öffnen und die Hunde zu begrüßen.
Margret lehnte mit gekreuzten Armen am Rahmen der Haustüre und wollte wissen, was Roberta ihrem Schüler gegeben hatte.
„Verzeih mir“, bat Roberta, „ich habe ihm Gertruds Maske geschenkt, für die wir ohnehin keine Verwendung mehr haben.“
„Das lachende und zugleich weinende Gesicht?“, fragte Margret.
„In der Tat“, nickte Roberta, „dem Kind wird die Maske eine Ahnung davon geben, von welcher Art dieses, unser Leben ist und sein kann. Es ist ein heiteres Trauerspiel.“
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