Eine kalte Sünde

Von Jens Philipp Gründler

Infolge der Tet-Offensive war Walecki einst aus der US-Armee desertiert. Am Tag des Neujahrsfests im Jahre 1968 hatten die nordvietnamesische Armee und der Vietcong einen Überraschungsangriff gestartet. Walecki war zu dieser Zeit in Saigon stationiert gewesen. Die dichten, weißgrauen Rauchwolken über der Stadt kann er nicht vergessen. Damals ergab sich der amerikanische Soldat, nachdem er die feindliche Kämpferin Hang getroffen hatte. Hang, deren Name Mond bedeutet, hatte sich in der Ruine einer ehemaligen Spielzeugfabrik verschanzt, und mit einem schweren Maschinengewehr auf Walecki und seine Kameraden gefeuert. Schließlich hatten die sechs US-Soldaten die Fabrik einnehmen und Hang überwältigen können. Walecki hatte sich vehement dagegen ausgesprochen, Hang zu töten oder gefangen zu nehmen. Dieser Befehl hatte zu Unmut und sogar Aufruhr unter seinen Kameraden geführt. So war der aus Chicago stammende Koch noch in derselben Nacht mithilfe der vietnamesischen Soldatin in Hanoi untergetaucht. Walecki, der zu den Vietnamesen überlief, wurde von Hang im Haus ihrer Mutter Phuong versteckt. Ranghohe Militärs kamen hierher, um Waleckis Informationen bezüglich der US-Kriegsführung abzuschöpfen und für sich zu nutzen. Hang kümmerte sich hingebungsvoll um den sehnigen Blondschopf, der einst in einer Chicagoer Gaststätte polnisches Essen gekocht hatte. Während der Wochen im Unterschlupf lernte er von Hangs Mutter Phuong, wie man Hühner-, Reis- und Gemüsegerichte zubereitet und revanchierte sich, indem er der alten Frau ein Geheimrezept für Piroggen verriet. Hang und Phuong liebten die polnischen Teigtaschen. Bald gestand Hang dem Deserteur ihre Liebe, die Walecki erwiderte, obwohl sie unter keinem guten Stern stand. Der Soldat hatte sich schon in Hang verliebt, als er den Lauf seines Gewehrs an ihre Schläfe drückte. Es handelte sich um die vielgepriesene und -gescholtene Liebe auf den ersten Blick. Die Wochen, die sie inniglich vereint in Saigon miteinander verbrachten, endeten, als die US-Militärpolizei den Deserteur aufspürte. Sie zündeten das Haus an und verhafteten Walecki und Hangs Mutter Phuong. Hang selbst war in der schicksalhaften Stunde nicht zugegen, da sie einem General kriegswichtige, von Walecki handgezeichnete Skizzen überbrachte. Als Hang zurückkehren wollte, war es zu spät.
Walecki kam in das amerikanische Militärgefängnis Fort Leavenworth, für zwölf Jahre. Anfangs schrieb er an jedem einzelnen Tag Briefe an die Geliebte, doch nach und nach wandte er sich innerlich von Hang ab. Dass die Liebesbekundungen Hang tatsächlich erreichten, erfuhr Walecki erst später, in Schweden. Während eines Gerichtstermins gelang es dem Gefangenen, sich abzusetzen. Er flüchtete nach Göteborg, denn der schwedische Ministerpräsident Olof Palme hatte damals die Grenzen für Vietnam-Deserteure geöffnet. Seitdem lebt Walecki auf der Schäre Hönö, wo er sich als Brotbäcker verdingt. Das kleine, felsige Eiland ist bekannt für sein Brot, den Hönökaka. Als Hang von Waleckis Flucht nach Schweden erfuhr, machte sie sich gleich auf, um ihren über die Maßen Geliebten zu besuchen.
Jedoch hatten die Jahre im Gefängnis Walecki verändert. In Fort Leavenworth hatte der Häftling eine heftige Opiatabhängigkeit entwickelt, sie aber mit der Unterstützung eines Arztes überwinden können. Trotzdem litt Walecki an Flashbacks, ernsthaften Traumata, die von seinen Erfahrungen in Vietnam herrührten. Walecki hatte die Einsamkeit für sich gewählt und verabscheute nun andere Menschen. Briefe an Hang hatte er lange nicht mehr geschrieben. Er hatte während seiner Haftzeit mit dem Gefängnispfarrer gesprochen und ihm von seiner Unfähigkeit zu lieben berichtet. Walecki wurde damals die Beichte abgenommen, doch sein Zustand besserte sich dadurch nicht.
„Mein Herz fühlt sich steinig und kalt an, wie gefroren, dabei habe ich einst so intensiv geliebt“, erklärte er dem Pfarrer einst.
„Die Einsamkeit ist eine Sünde, eine kalte Sünde“, entgegnete ihm dieser und bot Walecki tägliche Gespräche an. Doch der Verzweifelte schlug das Angebot aus und zog sich immer mehr zurück. Diesen Rückzug in sich selbst perfektionierte Walecki in Schweden. An Hang dachte er immer noch, doch er war der Meinung, dass er seine frühere Geliebte nicht mit seinen depressiven Tendenzen belasten sollte.
Hang zeigte sich entsetzt, als sie den Angebeteten schließlich traf. Er ignorierte sie vollständig, so dass sie nach wenigen Tagen wieder abreiste und nach Saigon zurückkehrte. Hier sprach sie mit mehreren Neurologen über das ihr unbekannte Phänomen der Posttraumatischen Belastungsstörung. Hang ließ nicht locker, rief Walecki wöchentlich an und schrieb ihm weiterhin. Er reagierte jedoch nicht. Erst als sie ihm von der schweren Erkrankung ihrer alten Mutter Phuong berichtete, beantwortete Walecki einen Brief. Gern erinnerte er sich an Phuong, von der er so viele Kochrezepte gelernt hatte. Zu ihrer großen Freude, konnte Hang Walecki bald in Saigon begrüßen. Immer noch wirkte er unnahbar und kühl, wie ein völlig anderer Mensch. Doch Hang hatte von einem auf Kriegsveteranen spezialisierten Psychiater den Tipp erhalten, Walecki mit neuartigen Antidepressiva zu behandeln. Vielen früheren Kameraden des Traumatisierten ging es deutlich schlechter als Walecki, der als Bäcker in Schweden ein einfaches, aber gutes Leben führte. Alte Freunde waren als Obdachlose geendet, oder hatten sich mit Rauschmitteln zunächst betäubt und dann getötet. Dennoch, Walecki konnte seine Liebe zu Hang nicht wieder aktivieren. Auch in den darauffolgenden Jahren erwiderte er ihre Kontaktaufnahmen nicht, sondern verharrte in seiner unmenschlich anmutenden Position als Eremit und Misanthrop. Nachdem er an Phuongs Beerdigung teilgenommen hatte, kehrte er nicht mehr nach Saigon zurück. Die Antidepressiva, die er eine Zeitlang konsequent eingenommen hatte, setzte der Vereinsamte komplett ab, um sich hinter seiner Trauer zu verschanzen und sich im Schmerz einzurichten.
Hang, die nicht unter Kriegstraumata litt, traf bald eine schwerwiegende Entscheidung. Sie beschloss, sich von ihrem Geliebten abzuwenden und einen Reisbauern zu heiraten. Die harte Arbeit auf den Feldern lenkte sie ab und auch die Geburt ihres Sohnes Binh nahm die stolze Mutter in Anspruch. All ihren Versuchen zum Trotz, gelang es Hang nicht, ihre Liebe zu Walecki zu verdrängen. Um sein erfrorenes Inneres zu erwärmen, schickte Hang eine Fotografie Binhs nach Hönö, und beging damit einen folgenschweren Fehler. Walecki reagierte entgeistert und glitt zurück in die Drogensucht. Mithilfe von Opiaten bekämpfte er die emotionale Verletzung. Hangs Plan, Walecki zurückzugewinnen, scheiterte grandios. Ein aus New York stammender Reporter suchte Walecki in dieser Lebensphase auf, da er über Vietnamdeserteure in Schweden berichtete. Der für das Magazin New Yorker tätige Journalist fand einen verelendeten Mann vor, der im Begriff war, Haus und Bäckerei zu verlieren. Auf dem spärlich besiedelten Inselchen Hönö, wo sich die Bewohner gut kannten, sorgte man sich um den eigenbrötlerischen Amerikaner, dessen Backkunst hier sehr geschätzt wurde. Zusammen mit dem Reporter suchten Nachbarn Walecki auf und versorgten ihn. In einem mitreißenden, von Menschlichkeit geprägten Zeitungsartikel beschrieb der New Yorker Schreiber Waleckis Elend. Hang, die regelmäßig englischsprachige Zeitungen las, stieß auf diesen Artikel und erlitt beinahe einen Schock, indem sie der Überschrift gewahr wurde:
Aus Liebe im freiwilligen Elend – Der Überlebenskampf des Vietnamdeserteurs Walecki
Erst als sich Walecki auf der untersten Stufe seiner Existenz befand, auf der ihn die Opiatabhängigkeit in den Tod treiben würde, wachte er auf. Das Foto von Hangs Sohn Binh in der Hand, hatte er dem Journalisten von der Liebe seines Lebens berichtet und davon, wie er alles Menschenmögliche unternommen hatte, um die Geliebte von sich fernzuhalten. Jetzt aber, so Walecki in dem Artikel, sei alles egal, da er stürbe. Von den Drogen geschwächt, entsandte Walecki einen letzten Hilferuf, indem er Hang seine Liebe gestand, in einem international bekannten Magazin.
Am Ende ging alles sehr schnell. Von ihrem Sohn Binh begleitet, traf Hang bereits am Tag nach Erscheinen des Berichts in Göteborg ein. Sowohl Hang als auch Walecki hatten es kaum erwarten können, einander wiederzusehen. Als die zierliche Frau am Terminal wartete, erschien ihr der Geliebte wie ein vom Himmel gesandtes Wesen. Sie schlossen sich in die Arme und schworen sich, diese Umarmung niemals wieder zu lösen.
„All die Jahre, die wir verloren haben, sollten wir schleunigst nachholen“, sprach Walecki, um fortzufahren, „ich habe der kalten Sünde der Einsamkeit gefrönt und gelebt wie ein Ausgestoßener, doch jetzt soll alles anders werden.“
Unter Tränen küsste Hang ihren Mann. Gemeinsam nahmen sie den Bäckereibetrieb wieder auf und leben mit Binh, den Walecki bald adoptierte, noch heute glücklich auf der Schäre Hönö.

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