Wenn die Bilder der Erinnerung festgehalten werden, erlöschen sie

Von Michael Wiedorn

Ich sitze in meinem Zimmer, ich laufe durch die Straßen und in meinen Gedanken ziehen schemenhaft Gesichter und Orte vorbei. Ich bin zerstreut und verfließe in Tagträume und Grübeleien. Aus den Fluten der Erinnerungen – der abgespeicherten Bilder und Bildbruchstücke – taucht eine weiße Mauer auf. Ich stehe unmittelbar davor. Der Traum saugt mich tief in sich ein. Würde ich meinen träumenden und geträumten Finger über die Buckel und Erhebungen der Wand gleiten lassen, würde sich der Verputz rau anfühlen. Ich hätte ein leicht pelziges Gefühl an der Fingerkuppe. Metallgeruch von den Rolladenrahmungen, von denen die weiße Farbe abbröckelt und der Rost darunter hervortritt. Der Sommergeruch meiner Kindheit tritt mir in die Nase. Warmer Wind weht den würzigen Geruch von blühenden Fliedersträuchern in meine Nase.
Bevor ich dazu komme, mich zu fragen, wann ich in diesem Haus war und wer darin wohnte, entflieht mein Erinnerungsbild. Mein Blick fällt auf einen Spaziergänger auf der anderen Straßenseite oder im Radio beginnen die Nachrichten. Was für eine Mauer? Was für ein blühender Flieder? Ich spüre nicht im Mindesten, dass mir etwas entflohen ist. Das Haus mit Garten und Wind ist in die grenzenlose Masse der Traum- und Erinnerungsbilder abgetaucht, um vielleicht irgendwann oder auch nie wieder aufzutauchen. Ich habe nichts im Griff. Gibt es mich überhaupt? Kann ich mich jeden Moment in meine Bestandteile auflösen? Ich lebe nicht, sondern träume nur. Ich bin Wasser, das nicht zu greifen ist.
Hätte ich Stift und Block zur Hand gehabt und hätte diese flüchtigen und fließenden Erinnerungen zu Wortgebilden verdinglicht, wären diese weiße Mauer und der würzig riechende Sommerwind zu einem außerhalb meines Kopfes dastehenden Text geronnen. Ein Text wie unendlich viele andere auch. Ein Zeitungsbericht über die Klimakrise, eine Buchrezension, mein Text über die Wand im Sommer. Alle können den Text lesen. Mir ist der Erinnerungssplitter zu einem Text erstarrt. Wird dieser Sommeraugenblick jemals wieder in seiner Willkür im Strom des Bewusstseins auftauchen und wieder wegschwimmen oder hat der grammatikalisch festgelegte Text die Erinnerung ausgelöscht? Ich werde dann nie herausfinden, in welchem Zusammenhang diese Erinnerung steht. Was ist an diesem Sommertag geschehen? Geschah an diesem Tag ein Mord, brach ein Krieg aus, fiel an diesem Tag ein Teller vom Tisch und zerbrach?
Ein Nachbar, von dem mir andere Erinnerungsbilder berichten, dass er schon vor wenigen Jahren ein gebrechlicher, alter Mann im Rollstuhl war, radelt in meiner Erinnerung jung und das Leben erwartend am Haus vorbei. Der Film der Erinnerungen zeigt meinem inneren Auge einen Strauß Blumen in einer hellblauen Vase auf einem weiß gestrichenen Tischchen. Habe ich als Kind in diesem Hause gelebt? Wenn auch nur kurz in den Ferien? Meine Mutter hasste es, wenn jemand Blüten von lebenden Sträuchern abriss. Dieser Blumenstrauß kann auf jeden Fall kaum bei uns zu Hause gestanden haben.
Erinnerungsbilder vermischen sich mit Traum- und Lügenbildern. Ich habe immer nur gelogen und alle Lügen geglaubt. Ich habe immer nur geträumt und bin nur ein eingeschnürter, kopfloser Rumpf in einer dunklen Ecke.
Ein Greis erhebt wichtigtuerisch seinen Zeigefinger und blickt vom Rollstuhl zur Pflegerin auf und erzählt immer wieder genau die selben Anekdoten mit den immer gleichen Worten. Die Flüssigkeit der Erinnerungen ist zu zähen Staubbrocken verdickt. Die Vergangenheit scheint in geradlinig aufgereihten, festgemauerten Erinnerungskammern ihre Ruhe gefunden zu haben. Das ganze Leben ist nach Belieben einfach abrufbar. Nachts erwacht er trotzdem schweißgebadet aus dem Schlaf. Die gut und schön gemörtelte Kindheitsanekdote über seine lieben und so heiß geliebten Eltern und die schöne Heimat hat sich während des Tiefschlafes in Dünnschiss verwandelt. Die Bettlaken sind nass und braun. Die Versteinerung der zur Anekdote verhärteten Erinnerung ist in den Träumen aufgebrochen. Der alte Mann ist im Traum in seine Jugend zurückgekehrt und ist beim Anblick seines Vaters, für den er sich aufopferte, dem er alles verdankte, der ihm ein heiliges Vorbild darstellte, zu einer Eissäule eingefroren. Der Vater war kalt – eiskalt. Der Alte träumt dem Vater, den er doch immer so verehrte, den er immer mit ganzem Herz heiß liebte, mit einem Messer die Gesichtshaut vom Schädel zu schneiden. Die schöne Heimat, das geliebte Elternhaus mit den duftenden Fliederbüschen und den von der Mutter so liebevoll gepflegten Rosenbeeten fängt Feuer. Wer hat das Feuer gelegt? Er weiß es nicht. Die schöne Heimat gibt es nicht mehr. Sie hat nie existiert.
Der Alte weiß nicht, wer er ist.

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© 2023 Michael Wiedorn
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