Der Doppelgänger

Von Johannes Morschl

Es war in einer verregneten Novembernacht in Berlin, als der 44-jährige Dichter Georg Wirre glaubte, von jemandem verfolgt zu werden. Er ging gerade vom Heidelberger Krug am Chamissoplatz, wo er mit sich selbst gezecht hatte, zur Nachtbus-Haltestelle am Platz der Luftbrücke. Zuerst fiel es ihm gar nicht auf, doch allmählich drang es in sein Bewusstsein, Schritte hinter sich zu hören. Wenn er anhielt, verstummten sie, und wenn er weiterging, hörte er sie wieder. Er drehte sich ein paar Mal um, aber hinter ihm war niemand zu sehen.

Er hatte dieses Erlebnis fast schon vergessen, bis er Mitte Dezember auf Empfehlung eines Bekannten die Lesung einer Autorin besuchte. Die Lesung fand in einem dieser neuen Szenelokale im Norden von Neukölln statt, und zwar in einem großen Kellerraum unter dem Lokal, der mit harten Stühlen ausgestattet war, auf denen ein längeres Sitzen zu einer echten Qual wurde. Die Autorin, eine elegant gekleidete Frau mittleren Alters, las mit sanfter selbstgefälliger Stimme groteske Texte über schwer gestörte Männer vor, über Totalversager, Mörder und Triebtäter. Nach der Lesung verspürte Wirre das dringende Bedürfnis, wiedereinmal den Heidelberger Krug aufzusuchen. Dort kippte er sich einige Wodkas hinter die Binde. Dabei musste er an die Lesung denken. Sah die Autorin alle Männer, und somit auch ihn, als schwere psychiatrische Fälle an? „Nie wieder unter das Joch einer Frau!“, schwor er sich nach dem vierten Wodka. Schon seiner Mutter hatte er nie etwas recht machen können, und seine Ex-Frau hatte zu einer wahren Xanthippe werden können, wenn er im Haushalt irgendetwas getan hatte, was ihrem Ordnungssinn zuwiderlief. Dabei ging es um lächerliche Kleinigkeiten wie um ein paar Krümel, die von seinem Frühstücksbrot auf den immer blitzblanken Fußboden gefallen waren, oder um eine leere Zigarettenschachtel, die er irrtümlich in die Mülltüte mit dem Biomüll geworfen hatte. Ihm wäre das gar nicht aufgefallen, wenn seine Exfrau deswegen nicht so ein Theater gemacht hätte. Misstrauisch hatte sie jede noch so kleine Bewegung von ihm beobachtet, so als wäre er ein unberechenbares, nicht stubenreines Tier.

Gegen zwei Uhr nachts bezahlte Wirre seine Rechnung und machte sich auf den Weg zur Nachtbus-Haltestelle, wobei er vom Wodka ziemlich benebelt war. In der menschenleeren Fidicinstraße hörte er auf einmal Schritte hinter sich. „Nein! Bitte nicht schon wieder!“, dachte er. Nun wollte er es aber wissen! Mit einem Ruck drehte er sich um, stolperte dabei über die eigenen Füße und fiel hin. Im Fallen konnte er gerade noch sehen, wie eine schattenhafte Gestalt, die eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm zu haben schien, in einem Hauseingang verschwand. Schnell stand er auf und lief zu dem Hauseingang, doch die Gestalt war wie vom Erdboden verschluckt. Nun war Wirre völlig verwirrt. Bildete er sich das alles nur ein?

An einem Dienstagabend Anfang Januar des folgenden Jahres besuchte er eine Autorenlesung in Kreuzberg, welche die Länge einer Wagneroper hatte. Sie begann um 20 Uhr und endete erst kurz vor Mitternacht. Wer eine Wagneroper schon einmal ausgesessen hat, weiß, was das einem an Geduld und Sitzvermögen abverlangt. Mit einer schwachen Blase sollte man da lieber nicht hingehen. Am Ende fühlt man sich wie erschlagen und kann sich kaum noch bewegen. Gleich nach der Lesung fuhr Wirre völlig erschöpft mit der U-Bahn nach Hause. Bald schlief er auf dem Sitz ein. Irgendwann wurde er vom Rütteln des Waggons geweckt, und siehe da, auf dem vorher leeren Sitzplatz ihm gegenüber saß nun ein Mann, der haargenau so aussah wie er! Genauso wie er hatte der Mann einen schmächtigen, fast zwergenhaften Körper und einen übergroßen Kopf mit schütterem fahlgelben Haar, kleinen rosaroten Ohren, Augen, die an jene einer Eule erinnerten, einer großen Adlernase, dünnen Lippen und einem stark nach vorn ragenden Kinn. Auch der aschgraue Wintermantel, die schwarze Cordhose und die schwarzen Halbstiefel, die der Mann trug, glichen genau dem, was er anhatte. Während er den Mann verstört anstarrte, schien ihn dieser nicht zu beachten. Doch als er sich räusperte, da räusperte sich auch der Mann, und als er mit dem rechten Fuß ein wenig auf dem Boden scharrte, da scharrte auch der Mann mit dem rechten Fuß ein wenig auf dem Boden. Wirre rieb sich die Augen, kniff sich in die Haut, doch sein Gegenüber wollte sich nicht in Luft auflösen.

„Ist das eine dieser wahnhaften Wahrnehmungsstörungen, eine optisch-szenische Halluzination, wie sie in Psychiatrie-Lehrbüchern beschrieben wird?“, dachte Wirre. Doch das konnte nicht sein, denn der Mann, der ihm da gegenübersaß, war zweifellos echt. „Das kann nur ein verrückter Zufall sein“, versuchte er sich zu beruhigen. „Warum sollte es nicht einen Menschen geben, der einem sehr ähnlich sieht? So etwas kann bei den Milliarden Menschen, die es auf der Erde gibt, schon mal vorkommen.“ Aber dass ihm der Mann auch in der Kleidung bis aufs kleinste Detail glich, kam ihm dann doch unheimlich vor. Er überlegte, ob es sich hier vielleicht um ein parapsychologisches, naturwissenschaftlich noch nicht erforschtes Phänomen handeln könnte. Vielleicht war ein Parallel-Ich von ihm aus einer Parallelwelt irrtümlich in diese Welt geraten, von der er bisher geglaubt hatte, sie sei die einzige Welt, die es gebe. Waren es die Schritte dieses Mannes, die er im November und Dezember letzten Jahres hinter sich gehört hatte? War dieser Mann jene Schattengestalt, die spurlos in einem Hauseingang verschwunden war? Verstellte sich dieser jetzt und tat nur so, als würde er ihn nicht kennen? Wirre wurde übel. Er hatte schon genug Probleme am Hals, ein bis zum Anschlag überzogenes Konto, Schulden bei seiner Ex-Frau, die er nicht begleichen konnte, und Streit mit einem cholerischen Nachbar, der als gewalttätig galt und einen Kampfhund besaß. Und nun auch noch dazu dieser Doppelgänger, womöglich aus einer Parallelwelt! Der hatte ihm gerade noch gefehlt!

Plötzlich fixierte ihn der Mann und fuhr ihn an: „Was glotzen Sie mich die ganze Zeit so an? Glauben Sie, ich weiß nicht, wer Sie sind? Sie schleichen mir schon seit Wochen nach! Und was soll diese idiotische Nachahmung von mir? Hat Sie etwa meine Ex-Frau engagiert, damit Sie meinen Doppelgänger mimen, um mich in den Wahnsinn zu treiben? Sie haben mir gerade noch gefehlt! Ich habe schon genug Probleme am Hals!“ Wirre war fassungslos. Dies konnte, ja durfte nicht wahr sein! Sein Gegenüber drehte den Spieß ganz einfach um! Empört schnauzte er zurück: „Das ist eine unverschämte Frechheit! Sie sind doch derjenige, der hier meinen Doppelgänger mimt und mir nachschleicht. Ich bin kein Doppelgänger, ich bin das Original! Was soll dieses ganze Affentheater? Verschwinden Sie wieder in Ihre Parallelwelt, aus der Sie gekommen sind! Das hier ist nicht Ihre Welt, das ist meine Welt. Sie haben sich in der Welt geirrt.“ Da begannen die Eulenaugen des Mannes vor Wut zu glühen. Er sprang auf, zog Wirre vom Sitz hoch und stieß ihn mit voller Wucht auf den Boden. Wirre schlug mit dem Hinterkopf auf. Ihm begannen die Sinne zu schwinden. Er nahm noch verschwommen besorgte Gesichter von Fahrgästen über sich wahr, dann verlor er das Bewusstsein.

Am nächsten Morgen erwachte er in einem Krankenhausbett. Eine Krankenschwester mittleren Alters sprach ihn mit sanfter selbstgefälliger Stimme an: „Na, wieder klar im Kopf? Sie sind in der U-Bahn bewusstlos geworden. Die Notfallrettung hat Sie zu uns gebracht. Als Sie wieder zu Bewusstsein kamen, haben Sie von einem Doppelgänger fantasiert, der Sie verfolgt. Gleich kommt ein Arzt, der Neurologe und Psychiater ist, um mit Ihnen zu reden und ein paar Tests zu machen.“ Wie seltsam! Diese Krankenschwester erinnerte Wirre fatal an die Autorin der monströsen Männergeschichten von der Lesung im Dezember letzten Jahres in Neukölln, ja er war sich fast sicher, dass es sich bei der Krankenschwester und der Autorin um ein und dieselbe Person handelte. Er fühlte sich äußerst unwohl in seiner Haut. Als er aber dann den eintretenden Neurologen und Psychiater erblickte, stellten sich ihm die Haare zu Berge. Vor ihm stand sein Doppelgänger, diesmal mit weißem Arztkittel kostümiert! Wirre sprang wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett und rief: „Ich lass mich nicht von einem Verrückten für verrückt erklären!“ Schnell nahm er seine Wohnungsschlüssel und seine Brieftasche an sich, die auf dem weißen Tischchen neben seinem Krankenbett lagen, und floh, umflattert von einem viel zu großen weißen Nachthemd, das man ihm nach seiner Einlieferung angezogen hatte, aus dem Krankenzimmer. Während er durch die Gänge in Richtung Ausgang rannte, hörte er Rufe hinter sich: „Halt! Stehen bleiben! Kommen Sie sofort wieder zurück! Haltet ihn auf!“

Als er endlich im Freien war, bekam er einen Schock von der klirrenden Kälte draußen. Zum Glück stand ein Taxi vor dem Krankenhaus. Er lief hin, riss die hintere Tür auf und setzte sich auf die Rückbank. Am Lenkrad saß eine alte weißhaarige Frau. Wirre war darüber etwas irritiert. Er dachte sich: „Eine so alte Frau darf noch ein Taxi fahren? Damit nimmt man eine erhöhte Unfallgefahr billigend in Kauf.“ Er sah sie zunächst nur von hinten. Merkwürdiger Weise kam auch sie ihm irgendwie bekannt vor. Als sie sich zu ihm umdrehte und ihn anlächelte, hätte er vor Schreck fast wieder das Bewusstsein verloren. Er erkannte in ihr seine vor Jahren verstorbene Oma Paula, die Oma mütterlicherseits, die aus Böhmen stammte und die er nicht nur wegen ihrer exzellenten Kochkunst geliebt hatte! Da fuhr die alte Frau ruckartig los, beschleunigte auf eine Geschwindigkeit, die um etliches über der erlaubten lag, und sang dabei in Anlehnung an den uralten Schlager von Willy Fritsch & Lilian Harvey Ich tanze mit dir in den Himmel hinein: „Ich fahre mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe!“ Er protestierte: „Oma, ich will nicht in den Himmel fahren, auch nicht in den siebenten Himmel der Liebe! Ich will nach Hause!“ Die Oma erwiderte: „Aber Georg, im Himmel ist das Zuhause!“ Da überkam Georg Wirre eine wohlige Mattigkeit und er fiel in einen tiefen erlösenden Schlaf, in dem sich die Wirren, in die er geraten war, in Nichts auflösten.

*

© 2023 Johannes Morschl
Alle Rechte vorbehalten