Anmerkungen zum literarischen Schreiben

Von Johannes Morschl

Hier geht es nicht um praktische Vorschläge zum literarischen Schreiben, das so wie jedes künstlerische Schaffen ein Akt der Selbstverwirklichung und Selbstbehauptung ist, sondern um einige Anmerkungen dazu und ein wenig Wissen darüber. So wie bei jeder selbstständigen künstlerischen Tätigkeit tritt man beim literarischen Schreiben mit sich selbst in Begegnung. Dazu braucht es Mut zum Schauen in sich selbst, in seine Liebe, Sehnsucht, Trauer, Wut, Schuld, Angst und Verzweiflung, in seine Träume und inneren Widersprüche, in seine Erfahrungen mit Menschen, Tieren, Dingen, Landschaften, in besondere Ereignisse in seinem Leben und um sein Leben herum. Man nimmt seine Grenzen, auch die unumstößliche Gewissheit der eigenen Sterblichkeit wahr. Man schmiedet seine Erfahrungen, Einsichten, Gefühle und Fantasien in Worte, Sätze, Gedichte, Geschichten, Szenen, Dialoge um. Bei manchen scheitert das literarische Schreiben an ihren Vorurteilen, an ihrer Angepasstheit an die Gesellschaft, an ihrem Unvermögen, mehr als nur „originell“ zu sein. Sie mögen sich schriftlich gut ausdrücken können, vielleicht auch eine blühende Fantasie haben, aber beim Lesen oder Zuhören bei einer Lesung merkt man etwas Seichtes, Oberflächliches im Text. Der Autor oder die Autorin hat es nicht gewagt oder nicht vermocht, sich der Selbstbegegnung und Wirklichkeit der eigenen Welterfahrung zu stellen.

Sich künstlerisch auszudrücken bedeutet in der heutigen Auffassung von Kunst, ein autonomes Kunstwerk zu erschaffen, das keinen praktischen Zwecken dient, sondern einzig und allein der Selbstverwirklichung des Künstlers/der Künstlerin. Der Künstler/die Künstlerin erschafft aus innerem Drang eine Kunstwirklichkeit, die neue Perspektiven öffnet. Dies kann im Extremfall wie dem des Dadaismus mit seinem spielerischen und provokanten Umgang mit der Sprache zu einer vom Gewohnten völlig abweichenden Erfahrung führen. Kunst ist in gewisser Weise eine Antithese zur gesellschaftlichen Realität, – ein Heraustreten aus dem Reich des Nützlichen, Verwertbaren, aus vorherrschenden Sinngebungen und ästhetischen Normen in eine Sphäre des freien individuellen Ausdrucks. Der/die literarisch Schreibende bleibt – falls dazu fähig – nicht an vorhandenen Kulturkonserven kleben, sondern erschafft eine neue Art und Weise des Erzählens. Dies wird besonders in der Literatur der Moderne sichtbar. Man denke etwa an Werke von James Joyce wie Ulysses und Finnegans Wake. Nun kann und braucht nicht jeder/jede, der/die literarisch schreibt, in die Weltliteratur einzugehen. Ein solch hoher Anspruch kann sich als sehr hemmend erweisen. Es geht vielmehr darum, beim Schreiben die eigenen Themen, den eigenen Sprachausdruck, die eigenen Sprachbilder und den eigenen Sprachrhythmus zu finden, und nicht darum, irgendwelchen berühmt gewordenen Autor*innen nachzueifern oder sie zu imitieren versuchen.

Das Umschmieden eigener Erfahrungen, Gedanken, Fantasien und Gefühle in literarisches Schreiben kann – beabsichtigt oder nicht – auch dazu führen, dass der Autor/die Autorin zum Warner/zur Warnerin wird, der/die vor Entwicklungen warnt, die sich in der Gesellschaft zeigen oder anbahnen. So enthält die Kunst des 20. Jahrhunderts viele Symbole der Entfremdung und Angst. Der englische Dichter Wystan Hugh Auden gab mit seinem Gedicht Das Zeitalter der Angst (The Age of Anxiety, 1948) einer ganzen Epoche den Namen, – einer Epoche der Weltkriege, Revolutionen und Konterrevolutionen, der totalitären Regime, der Shoa, der Gulags und des ersten Abwurfs von Atombomben (1945 von der US-Luftwaffe auf Hiroshima und Nagasaki).

Viele Menschen fliehen ins Wegschauen, in die Verdrängung, in die Banalitäten des Alltags. Warum konnte ein Theaterstück wie Warten auf Godot von Samuel Beckett, in dem zwei Männer in ein unsinnig wirkendes, banales Gespräch verwickelt sind, während sie auf einen gewissen Godot warten, der nie erscheint, so erfolgreich werden? Das Stück spricht ein Gefühl der Entfremdung von uns selbst und der Welt an, und es spricht die diffuse Hoffnung auf eine Über-Person oder einen Gott an. Im Namen Godot steckt das Wort Gott, auf Englisch god, wobei man zu Godot auch assoziieren könnte: Gott-tot.

In gewisser Weise erfordert literarisches Schreiben ein Ringen mit den Göttern. Der/die literarisch Schreibende muss gegen die real vorhandenen Götter der Gesellschaft ankämpfen, gegen die Götter des Konformismus, des materiellen Erfolgs und der ausbeuterischen Macht. Auf der seelischen Ebene ist literarisches Schreiben auch eine Auseinandersetzung mit dem Tod und Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Da Künstler*innen oft sehr sensible, nicht selten zur Melancholie neigende Persönlichkeiten sind, kann diese Auseinandersetzung in Todessehnsucht umschlagen. Der Tod wird dann als letzter Ausweg aus einer unerträglich gewordenen Welt gesehen. So einige Autor*innen wählten aus unterschiedlichen Gründen den Freitod wie z.B. Karoline von Günderrode („Darum fort und fort ins Weite / Aus dem engen dumpfen Leben“), Heinrich von Kleist, Georg Trakl („Schwester stürmischer Schwermut / Sieh ein ängstlicher Kahn versinkt / Unter Sternen / Dem schweigenden Antlitz der Nacht“), Wladimir Majakowski, Marina Zwetajewa, Paul Celan, um nur einige zu nennen. Literarisches Schreiben als Leidenschaft und Berufung ist also nicht ungefährlich. Der/die literarisch Schreibende ist aber im Grunde genommen ein Rebell/eine Rebellin gegen den Tod, der/die wie Jean Paul Sartre den Tod als Skandal ansieht. Er/sie ist auch ein Gebärender/eine Gebärende, der/die seine/ihre Geschöpfe aus dem Material der Sprache zum Leben erweckt. Dabei bewegt er/sie sich in einer Dynamik zwischen Schaffensdrang und Schaffenshemmung, der berühmt berüchtigten Schreibhemmung, unter der so manche Schriftsteller*innen schwer zu leiden hatten und haben. Sie ist der Fluch der kreativ Schreibenden. Im Extremfall führt sie dazu, nichts mehr zustande zu bringen.

Literarisches Schreiben ist primär Ausdruck der Persönlichkeit des/der Schreibenden, und sekundär Ausdruck einer Epoche, eines Kunststils, einer Kunstideologie und Ästhetik. Wie ich zu Beginn geschrieben habe, sehe ich im literarischen Schreiben einen Akt der Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung. Dieser kreative Akt findet in einem Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft statt. Je nachdem, ob eine Gesellschaft der Persönlichkeitsentfaltung, dem Individualismus mehr Raum gibt, oder ob sie das Kollektive über das Individuelle stellt, wird sich der/die Schreibende in seinem/ihrem Schaffensdrang in unterschiedlicher Art und Weise ausdrücken. Im zweiten Fall muss sich der/die Schreibende bis zu einem gewissen Grad an kollektive Normen, Vorgaben und Vorstellungen anpassen. Dadurch wird seine/ihre künstlerische Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung zwar eingeschränkt, aber sie bleibt dennoch vorhanden, denn ohne sie könnte kein originales Kunstwerk entstehen.

So bewegten sich z.B. die Schriftsteller*innen der DDR in dem Spannungsfeld zwischen geforderter Linientreue zur Kulturpolitik des Staates und persönlichem kreativen Ausdruck, und schufen dennoch bedeutende, die Fronten des Kalten Krieges zwischen Ost und West überschreitende Werke. Eine der bedeutendsten Schriftsteller*innen der DDR und überhaupt eine der bedeutendsten deutschen Schriftsteller*innen des 20. Jahrhunderts war meines Erachtens die 1900 in Mainz geborene Anna Seghers (Geburtsname Anette „Netti“ Reiling, den Namen Seghers nahm sie aus Bewunderung für den niederländischen Radierer und Maler Hercules Seghers aus dem 17. Jh. an), die schon vor ihrer Zeit in der DDR eine bekannte Schriftstellerin war. Einer ihrer großen Romane, Das siebte Kreuz, eine Geschichte über sieben geflohene KZ-Häftlinge, wurde 1944 von dem österreichisch-amerikanischen Regisseur Fred Zinnemann in den USA verfilmt. Anna Seghers war überzeugte Kommunistin, 1929 Mitglied der KPD geworden. In der DDR war sie viele Jahre Vorsitzende des Schriftstellerverbands der DDR (1952 – 1978). Als solche war sie aber durchaus nicht immer linienkonform. So stimmte sie gegen den Ausschluss des Dramatikers, Dramaturgen und Lyrikers Heiner Müller aus dem Schriftstellerverband der DDR, konnte sich aber nicht durchsetzen.

Ich kann hier nicht auf alle bedeutenden Schriftsteller*innen, Dichter*innen und Dramatiker*innen der DDR eingehen, das würde den Rahmen dieses Kurz-Essays sprengen. Da wären neben den bereits Genannten – Anna Seghers und Heiner Müller – noch eine ganze Reihe anderer zu nennen, u.a. Johannes R. Becher, Jurek Becker, Wolf Biermann, Johannes Bobrowski, Thomas Brasch, Volker Braun, Bertolt Brecht, Franz Fühmann, Peter Hacks, Stefan Heym, Wolfgang Hilbig, Peter Huchel, Hermann Kant, Sarah Kirsch, Reiner Kunze, Erich Loest und Christa Wolf. Ich möchte aber im Zusammenhang mit vom Staat geforderter Linientreue und damit kollidierenden künstlerischen Positionen und persönlichen Haltungen skizzenhaft auf Bertolt Brecht, Thomas Brasch und Wolf Biermann eingehen.

Brecht ging nach seiner Rückkehr aus dem Exil in den USA zuerst nach Zürich, Österreich und dann nach Ost-Berlin in die SBZ (Sowjetische Besatzungszone, ab 1949 DDR). Seine Form des „epischen Theaters“ stieß bei den Kulturfunktionären der DDR immer wieder auf Kritik, da es nicht der Doktrin des Sozialistischen Realismus entsprach. Nach der Niederschlagung des Bauarbeiteraufstands am 17. Juni 1953 in Ost-Berlin schrieb Brecht das berühmte Gedicht Die Lösung:

„Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?“

Von den ehemaligen DDR-Autor*innen fühle ich mich am stärksten mit dem Schriftsteller, Lyriker, Dramatiker, Regisseur und Übersetzer einiger Theaterstücke von Shakespeare Thomas Brasch verbunden, vor allem wegen seines ganz eigenen Stils, aber auch wegen seiner rebellischen Persönlichkeit. Er stammte aus einer höheren SED-Funktionärsfamilie, sein Vater war eine Zeit lang stellvertretender Minister für Kultur der DDR. Als der 1968 zur Prenzlauer Berg-Boheme gehörende 23-jährige Thomas Brasch gemeinsam mit seiner damaligen Freundin, der Liedermacherin Bettina Wegner, Flugblätter gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings durch russische Panzer in Hausbriefkästen in Ost-Berlin einwarf und dabei erwischt wurde, wurde er zu einer längeren Haftstrafe verurteilt, nach 11 Wochen Gefängnis aber auf Bewährung entlassen. Er wurde dazu verdonnert, den Rest der Strafe als Arbeiter in der Produktion abzuleisten. 1976 – kurz nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR – übersiedelte er mit seiner Freundin, der Schauspielerin Katharina Thalbach nach West-Berlin. 2001 starb er im Alter von 56 Jahren an Herz- und Lungenversagen in Folge eines jahrelangen übermäßigen Alkohol- und Drogenkonsums (Kokain). In West-Berlin wurde zuerst sein noch in der DDR entstandener Prosaband Vor den Vätern sterben die Söhne veröffentlicht (Rotbuch Verlag, 1977). Dieser Prosaband wurde im Westen als Anti-DDR-Buch gepriesen und damit propagandistisch reduziert. Was Brasch da zum Beispiel über automatisierte Produktion in einem DDR-Betrieb und den Stress, die von der Betriebsleitung geforderte Stückzahl zu erreichen, schrieb, so wie über den Alkoholismus bei den Werktätigen, erinnerte mich stark an meine eigenen Erlebnisse als Aushilfskraft in den Wiener Ziegelwerken und später in Westberliner Fabriken. (Zu einigen meiner diesbezüglichen Westberliner Erlebnisse siehe meinen in der Textmanege vom März 2022 veröffentlichten Text Episoden aus dem Leben eines Exil-Wieners in West-Berlin). Wer sich über das Leben von Thomas Brasch informieren will, dem empfehle ich den Film „Lieber Thomas“, seit Kurzem auch in der Mediathek des Fernsehsenders arte zu finden.

Und dann Wolf Biermann. Ich kannte schon Lieder von ihm, als er noch in Ost-Berlin lebte und seine Lieder dort verboten wurden. Ein Bekannter von mir hatte sie in Ost-Berlin auf Tonband aufgenommen und aus der DDR geschmuggelt. Biermanns Lieder wie z.B. das Lied Ermutigung – „Du lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit, die all zu hart sind, brechen…“ – ermutigte auch uns kleines Häuflein junger antiautoritärer Linker in Wien, zu dem ich damals gehörte. Der Dichter und Liedermacher Wolf Biermann, der als junger überzeugter Kommunist von Hamburg in die DDR übersiedelte, nahm mit der Zeit eine immer kritischer werdende Haltung zu Staat und Partei (SED) ein. Er bekam schließlich Auftrittsverbot und seine Lieder wurden in der DDR verboten, sie wurden aber in oppositionellen Kreisen unter der Hand weitergegeben. Dabei musste man äußerst vorsichtig sein, um keine Schwierigkeiten mit der Stasi (Staatssicherheit) zu bekommen. Man ließ Biermann 1976 zu einem Auftritt in Köln, zu dem er eingeladen worden war, aus der DDR ausreisen, ließ ihn allerdings danach nicht mehr in die DDR zurück einreisen und er wurde aus der DDR ausgebürgert, was zu Protesten von Künstler*innen der DDR wie einem Offenen Brief an die Staats- und Parteiführung gegen die Ausbürgerung Biermanns führte, den u.a. auch Thomas Brasch unterschrieben hatte.

Der heute vorherrschende individualistische Typus des Künstlers/der Künstlerin hat seinen Ursprung in der Genie-Vorstellung vom Künstler in der Renaissance. Der Geniebegriff der Renaissance bedeutet die Vergöttlichung des Menschen als einer schöpferischen Persönlichkeit, wobei das Bild vom Schöpfergott, wie es in der jüdisch-christlichen Tradition in der Genesis beschrieben wird, in den Menschen selbst verlegt wird. Soziologisch bedeutet dies die Schaffung und Anerkennung des Typus „Genie“ als eines für die Gesellschaft hochwertigen Kulturfaktors. Der Künstler/die Künstlerin wird selbst zu einer Art von Schöpfergott/göttin. Er/sie entwickelt seinen/ihren besonderen individuellen Stil, der sich zwar noch an Vorbilder hält, aber gleichzeitig über die vorherrschenden literarischen Stile und ästhetischen Vorstellungen hinwegsetzt und mit neuen Ausdrucksformen die Grenzen der Tradition überschreitet.

Während Sigmund Freud künstlerisches Schaffen als Sublimierung des Sexualtriebs ansah, – nicht nur meines Erachtens eine zu einseitige Auffassung -, wäre es viel interessanter zu untersuchen, welche Voraussetzungen es einem Menschen ermöglichen, künstlerisch tätig zu werden. Im Unterschied zum gehemmten Künstler/zur gehemmten Künstlerin, der/die wegen zu hoher Ansprüche an sich selbst und wegen zu negativer Selbstbeurteilung die eigene Persönlichkeit nicht voll akzeptieren kann, stellt der künstlerisch kreative Typus das Gegenstück dar. Er/sie akzeptiert seine/ihre Persönlichkeit mit ihren Licht- und Schattenseiten, und in einer übersteigerten Form glorifiziert er/sie sogar das eigene Selbst. Dies kann nach außen hin abstoßend wirken, wenn einer/eine – so gut er/sie auch schreiben mag – eine Geniereligion mit eigenem Personenkult vertritt, wie es bei dem symbolistischen Dichter Stefan George der Fall war, zu dessen Kreis junger männlicher Verehrer der spätere Hitler-Attentäter Claus Schenck Graf von Stauffenberg und dessen Brüder gehörten.

Aber ein gewisses Selbstbewusstsein gehört zum Schreiben dazu, denn der/die literarisch Schreibende wird von niemandem zum Künstler/zur Künstlerin ernannt, sondern kann sich nur selbst zum Künstler/zur Künstlerin ernennen, unabhängig davon, ob seine/ihre Umwelt ihn/sie als solchen/solche akzeptiert oder nicht. Diese Selbsternennung muss er/sie dann durch sein/ihr Werk vor sich selbst rechtfertigen. Der Akt der Selbsternennung zum Künstler/zur Künstlerin, der auch eine gewisse eigene Persönlichkeitserhöhung mit der Gefahr zum Größenwahn in sich birgt, ist die Grundvoraussetzung für den künstlerischen Schaffensprozess. Dem künstlerischen Schaffensdrang liegt nicht nur die bei allen Menschen vorhandene Dynamik zwischen Antrieb und Hemmung (Angst, Selbstzweifel) zugrunde, sondern es kommt noch der individuelle Willensakt hinzu, den Weg des Künstlers/der Künstlerin zu gehen.

Durch die Selbsterhöhung und Selbsternennung zum Künstler/zur Künstlerin hebt sich die Person aus der Gemeinschaft heraus, was auf der lebenspraktischen Ebene zu schweren Konflikten führen kann, vor allem in Diktaturen. Man denke etwa an das Schicksal des russischen Dichters Ossip Mandelstam, der sich nicht der offiziellen Kunstdoktrin in der Zeit nach der russischen Revolution unterordnete und im Zuge der stalinistischen „Säuberungen“ in ein Straflager in Sibirien deportiert wurde, wo er zu Tode kam. (Nach einer anderen Version kam er aus dem Lager zurück und wurde von den in Russland einmarschierten Deutschen im Zuge von deren Massakern an den russischen Juden ermordet.) Oder man denke an das Schicksal der großartigen russischen Dichterin Marina Zwetajewa, die nicht nur Männer, sondern auch Frauen liebte, und die sich 1941 erhängte, da sie nach ihrer Rückkehr von Frankreich nach Russland, – das Russland der Stalin-Ära -, isoliert blieb und geschnitten wurde, auch von ehemaligen Freunden wie Boris Pasternak. Oder man denke an die Autor*innen der Weimarer Republik, die in der Nazizeit expatriiert oder in Konzentrationslager gesperrt wurden. Man denke etwa an den anarchistischen Schriftsteller und Publizisten Erich Mühsam, der im KZ Oranienburg bestialisch misshandelt und ermordet wurde. Oder man denke an die vielen Autor*innen, deren Bücher in Deutschland öffentlich verbrannt und aus den Bibliotheken entfernt wurden. Viele emigrierten aus Deutschland und Österreich (nach dessen „Anschluss“ 1938). Thomas und Heinrich Mann, Erika und Klaus Mann, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Oskar Maria Graf, Anna Seghers, Bertolt Brecht, Else Lasker-Schüler, Robert Musil, um nur einige wenige zu nennen, gehörten zu den Schriftsteller-Emigrant*innen. Oder man denke an den spanischen Dichter und Dramatiker Federico Garcia Lorca, der vermutlich nicht nur wegen seiner republikanischen Gesinnung, sondern auch wegen seiner Homosexualität von spanischen Falangisten erschossen wurde.

Die Selbsterhöhung und Selbsternennung zum Künstler/zur Künstlerin spiegelt sich bei Autor*innen in der je besonderen Formung des Sprachmaterials, die über ein nur unterhalten wollendes literarisches Produkt hinausgeht. Doch eigentlich bleibt die Entscheidung, den Weg des Künstlers/der Künstlerin zu gehen, das Hauptwerk, da alle anderen Werke nur Ausdruck dieser Entscheidung sind und Rechtfertigungen derselben darstellen. Die Entscheidung, diesen Weg einzuschlagen, geht einher mit einem Schaffensdrang, der zur Selbstverewigung tendiert. Der Künstler/die Künstlerin wehrt sich gegen das vergängliche Erleben des Ichs und zieht sich nicht selten aus dem Leben zurück, das für ihn/sie Vergänglichkeit und Hinfälligkeit bedeutet. Er/sie versucht im Schaffensprozess sein/ihr vergängliches Leben zu verewigen. Er/sie will den Tod in Leben verwandeln, verwandelt aber in gewisser Weise auch Leben in Tod, denn das fertige Werk lebt nicht nur weiter, sondern wird für ihn/sie auch abgesondertes Objekt. Der Schaffensdrang treibt ihn/sie zum nächsten Werk weiter. Es kann aber auch vorkommen, dass er/sie mit einem Werk nicht fertig wird, da er/sie es immer wieder überarbeitet und ergänzt. So ist zum Beispiel Robert Musil über seinem Opus Magnum Der Mann ohne Eigenschaften in der Emigration in der Schweiz gestorben (1942). Der umfangreiche Roman, an dem Musil viele Jahre gearbeitet hat, blieb unvollendet, und Musil hinterließ zusätzlich zum Fertigen noch viele Seiten von Entwürfen.

Zum Abschluss möchte ich zwischen zwei Typen der literarisch Schreibenden unterscheiden, – zwischen dem/der klassischen und dem/der romantischen Schriftsteller*in. Der/die klassische Schriftsteller*in drückt sein/ihr Selbst in der Verarbeitung des sozialen Erlebens aus. Man denke z.B. an die Romane von Lew N. Tolstoi, vor allem an den Roman Krieg und Frieden, in dem ein beeindruckendes Panorama der russischen Gesellschaft zur Zeit der napoleonischen Kriege entfaltet wird. Oder man denke an die Romane von Émile Zola. Er recherchierte akribisch die Milieus und Orte, in denen sich seine Romane abspielen. Welch ungeheure düstere Wucht hat sein vielleicht bester Roman Germinal. Oder man denke an den großartigen, auf eigenen Fluchterfahrungen beruhenden Roman Transit von Anna Seghers, in dem das Schicksal von Menschen beschrieben wird, die 1940 auf der Flucht vor der in Frankreich einmarschierten Hitler-Armee und dem mit Hitler kollaborierenden Regime von General Petain in Südfrankreich zu Tausenden in Marseille zusammenströmen, um noch in letzter Minute Ausreisepapiere und ein Schiff nach Übersee zu bekommen. Das Werk und die damit verbundene soziale Anerkennung, die Verewigung im kollektiven Gedächtnis, sind dem klassischen Künstler*in-Typus wichtiger als das persönliche Leben und Erleben, das ihm/ihr nur ein Mittel für sein/ihr Schaffen ist.

Anders ist es beim romantischen Künstler*in-Typus. Vorweg sei betont, dass ich hier nicht nur die im engeren Sinn zur Stilepoche der Romantik zählenden Autor*innen meine, sondern diesen Begriff in einem erweiterten Sinn verwende. Dem romantischen Künstler*inTypus ist sein/ihr Ich mit seinem/ihrem Erleben wichtiger oder genauso wichtig wie sein/ihr Werk. Sein/ihr Werk ist oft eine zwanghafte Befreiung von inneren Nöten. Das künstlerische Schaffen ist ihm/ihr Überlebensmittel in einer nahezu selbsttherapeutischen Weise. Seine/ihre Kunst ist subjektiver, enger mit dem individuellen Leben verknüpft als die Kunst des klassischen Typus, die objektiver ist und mehr mit dem gesellschaftlichen Leben und mit der vorherrschenden Ästhetik verbunden bleibt. In der schreibenden Zunft ist der romantische Typus oft bei Dichter*innen vorzufinden. Man denke zum Beispiel an Georg Trakl, dessen inzestuöse Liebe zu seiner jüngeren Schwester Gretl in einigen seiner Gedichte mehr oder minder verklausuliert thematisiert wird, und der dem Alkohol und anderen Rauschmitteln zugeneigt war.

Abschließend bleibt zu sagen, es ist einerseits wunderbar, den Weg des Künstlers/der Künstlerin zu gehen, es ist aber kein leichter und kein gefahrloser Weg.

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© 2023 Johannes Morschl
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Diesem Essay liegen zum Teil Gedanken aus dem Buch Kunst und Künstler – Studien zur Genese und Entwicklung des Schaffensdranges (Erstveröffentlichung 1932) des Freud-Schülers, Psychoanalytikers und Abweichlers von der Freud’schen Lehre Otto Rank zugrunde, der 1926 nach Paris ging und 1933 in die USA emigrierte. Eine seiner Schülerinnen in den USA war die in Frankreich geborene Pyschoanalytikerin und Schriftstellerin Anais Nin, mit der er auch eine Liebesaffäre hatte. Anais Nin, die in Paris eine Liebesaffäre mit dem US-amerikanischen Schriftsteller Henry Miller und auch mit dessen Frau June hatte, hat eines der berühmtesten Werke erotischer Literatur geschrieben: „Das Delta der Venus“.