Von Barbara Gase
Ines lief ins Badezimmer und ließ sich eiskaltes Wasser über die Pulsadern laufen. Ihr dünnes Long-Shirt klebte am Körper. Sie atmete durch den Mund, wischte sich die Schweißperlen von der Stirn und wusch die Farbe ab, die sich auf ihren Händen und Armen verteilt hatte. Ein blauer Strudel strömte in den Abfluss. Sie erahnte den schwarzen Schlund, der unter der Öffnung lauerte. Aus dem Dachfenster ihrer Atelierwohnung schaute sie in den großstädtischen Hochsommerhimmel. Harmlose Wölkchen verzierten die blassblaue Endlosigkeit.
Sie eilte barfuß auf dem kühlen Steinboden zurück ins schwüle Atelier. Eine großformatige, auf Keilrahmen aufgezogene, Leinwand lag auf dem Boden und glänzte nass. Farbpigmente, Aquamarin, Preußischblau, Bergblau, Azur, Cerulean, Indigo, überall auf dem Boden verteilt, angerührt in Töpfen und Schalen, versetzt mit feinkörnigem Sand und kaltem bröckeligem Kaffeesatz. Ines nahm den Rundpinsel in die Hand und verteilte die Farbe, dickflüssig und üppig. Die Blautöne in Schichten von grell bis dunkel, voll und ausgelaugt, als hätten sich alle Behälter synchron entleert. Mit einer Rakel verstrich sie die pastöse Masse. Sie ritzte Zeichen mit dem Griff des Pinsels in die noch feuchte Farbe, verwischte alles wieder. Verletzte die Leinwand mit einem Messer, malte neue Farbschichten, einen Dschungel aus Linien, Flächen, Punkten, Sprengseln, Höhlen. Die Leinwand ächzte unter der Last. Der Geruch nach Terpentin und Firnis lag wie eine Nebelwolke im Raum.
Sie hatte ihren eigenen Stil entwickelt. Nächste Woche sollte eine Werkschau in der angesagten Galerie ›Paul Silber‹ eröffnet werden.
Ines holte die Flasche mit der schwarzen Tusche aus dem Regal. Sie glitt in ihrer verschwitzten Hand hin und her. Plötzlich verschüttete sie Flüssigkeit. Wie Quecksilber rollte sie glitzernd über das Bild, bevor sie hineinrutschte in das Gewebe, versackte und einen zerfaserten tiefschwarzen Fleck hinterließ.
Sie hielt inne. Der Klecks wurde zu einer Hand. Sie schälte sich aus der Leinwand heraus, finster und fordernd, und griff nach ihren Waden. Erst packte sie fest zu, lockerte anschließend den Griff und streichelte über ihre Gänsehaut.
Ines schrie auf.
„Geh weg, ich will dich nicht mehr sehen und spüren! Immer wieder kommst du, in jedes Bild!“
Sie lief keuchend und röchelnd im Atelier auf und ab und stolperte zurück zum Bild. Sofort kam die Hand hervorgeschossen und angelte nach ihr. Sie goss die blaue Farbe, die noch im Eimer schwamm, über die Leinwand. Die Hand befreite sich und wollte sie wieder greifen. Ines stieß den Atem aus. Schnaufte. Kälte breitete sich in ihren Beinen aus. Die Füße kribbelten.
Der Deckenventilator gab ein gleichmäßiges Geräusch von sich. Ein Quietschen, wie ein nicht geöltes Scharnier. Ines lief ins Bad und drehte den Wasserhahn auf. Erst schoss es heiß heraus. Sie brüllte. Dann kalt. Der Spiegel über dem Waschbecken beschlug. Sie wischte ihn klar.
Zuerst nahm sie das Klingeln nicht wahr. Aber es hörte nicht auf. Sie benutzte die Gegensprechanlage und drückte den Türöffner. Es war Paul, der Galerist.
Sie lauschte dem Stapfen, das im Treppenhaus immer näher kam.
Paul lächelte, als er schließlich vor ihr stand, und schüttelte seine schwarzen Haare, bis sie in Fransen in die Stirn hingen.
„Was für eine Hitze!“, rief er.
Ines nickte und ließ ihn herein. Er ging ins Atelier und blieb vor dem blauen Bild stehen. Er starrte es an. Er versank im Blau. Er ertrank im Blau und schwieg. Lange. Sie auch.
„Das ist das Beste! Noch viel besser als die, die schon in der Galerie sind“, stieß er hervor, „das bekommt den Platz gleich am Eingang.“
„Es ist noch nicht fertig“, sagte sie und strich sich mit der Hand über das Gesicht.
„Wann kann ich es holen?“
„Nächste Woche.“
Sie stand vor dem Bild, ihm den Rücken zugewandt. Er näherte sich und presste sie an sich. Er tastete mit seinen Händen unter ihrem Shirt und streichelte ihre Brustwarzen. Seine Fingerspitzen umrundeten den Bauchnabel, loteten die Tiefe aus. Seine Lippen berührten ihren Nacken. Paul fasste mit der rechten Hand in ihren Slip. Sie stöhnte auf und drängte sich an seinen Bauch. Ihr langes Haar floss über seine Schulter.
Die Hand auf der Leinwand hatte zugesehen. Nun schnappte und grapschte sie nach ihr. Sie berührte ihren Fuß. Mit einer raschen Bewegung stieß die Hand Paul nach hinten. Er taumelte.
„Was war das? Warst du das?“
Atemlos spuckte er die Sätze aus, seine Lippen vibrierten, und er sackte auf dem Fußboden zusammen. Eine lange Pause entstand.
Schließlich stand er auf und ging um das Bild herum, fixierte es. Betrachtete es wie einen Feind.
„Kann ich es nächste Woche abholen?“
Seine Augen flackerten.
„Ja, klar.“
Sie brachte ihn zur Tür und verschloss sie sofort hinter ihm, ging ins Badezimmer und duschte. Kalte Nadeln massierten ihren Körper. Sie duschte lange, bis die Haut an den Füßen schrumpelte. Sie zog eine dünne Leinenhose an und ein T-Shirt und ging zum Discounter um die Ecke. Ein Tiefkühlgericht, zwei Flaschen Wasser und Weißwein. Zurück in ihrer Wohnung, schob sie die Mahlzeit in den Ofen. Trank gierig die Wasserflasche leer. Sie schaute aus dem Fenster, Schwalben tanzten hoch oben im Azurblau. Im Stehen aß sie vor dem Bild. Schlang das fade Essen herunter.
Die Hand war noch da.
Sie nahm einen Stock und tauchte ihn in ein Glas mit Zinnoberrot. Sie schrieb, sie stach krakelige Buchstaben in die Farbschichten, direkt auf die Hand: ›Ich töte dich‹. Der rote Farbstoff schmiegte sich blutend an das Blau.
*
© 2023 Barbara Gase (Text & Bild)
Alle Rechte vorbehalten