Der Kanalräumer

Von Michael Wiedorn

Er ist unten. Die Herren haben ihn hinunter in die Rohre verbannt. In den Gestank, den nur noch Ratten bewohnen. Ein kräftiges Tier springt aus dem Schritt des Arbeiters und eilt weg von dessen Körper. Das dicke, feste Gummi einer Watthose umschließt den schwitzenden Mann. Der Erniedrigte wird nie das fröhliche Leuchten der Sonne wiedersehen. Die Sonne würde sich bei seinem Auftauchen im Tageslicht verfinstern. Bäume und Blumen würden vor Abscheu auf der Stelle verdorren. Dunkle Rinnen von Schlamm und Scheiße laufen über seine gemeine Fresse. Ein Schutzhelm behütet seinen kahl geschorenen Schädel. Helme beschützen die kümmerlichen Hirnmassen der Soldaten vor tödlichen Kugeln. Der Soldat krümmt sich schutzsuchend im schmatzenden Schlamm. Wieviele Männer sind schon von der Erde verschluckt worden? Der junge Arbeiter stinkt bestialisch nach frischem Schweiß und hart getrockneter Scheiße. Auf offener Straße wäre er ein Gegenstand der grenzenlosen Verachtung. Seine unterwürfigen Augen blicken aus seinem von einer Dreckkruste verunziertem Gesicht. Eine schroffe Narbe zerteilt seine dumme Visage, die ihm ein Schwert voller Absicht zugefügt hat. Früher erregte der Junge durch sein edel geschnittenes und sensibles Antlitz Aufsehen. Der tägliche Umgang mit gärendem Schmutz und Abwasser lässt den Eiter in schweren, rot leuchtenden Pickeln aufblühen. Auf der Erdoberfläche würde seine gigantische Körpergröße und die durch die harte Arbeit gestählten Muskelgebirge die Zivilisten in die Flucht treiben. Die Stadt schüttet ihre Ausgüsse auf sein Haupt. Seine noch fülligen Lippen leuchten rot wie Erdbeeren.
Sein höchster Ehrgeiz und Stolz besteht darin durchzuhalten. Selig ist, was hart macht. Schläge mit der Hundepeitsche, mit dem Ochsenziemer, granitharte Ohrfeigen empfängt er stolz mit immer versteinertem Gesicht. Es zeigt keine Schmerzen, keine Trauer, keine Freude, sondern immer nur geduldige Härte. Der Kerl verwandelt sich nur in eine nützliche Eisenstange. Nur sein gewaltiger Adamsapfel geht bei Demütigungen auf und ab. Nur seine Augen leuchten himmelblau wie ein wolkenloser Sommerhimmel. Sie blicken sehnsüchtig in die Ferne. Grenzenloser Hass funkelt in ihnen. Sein sehniger Körper bebt wie eine geladene Batterie. Batterien lassen Arbeitswerkzeuge funktionieren. Die stärksten Kämpfer an der Oberfläche würden von seinem frei gelassenen Hass niedergeschmettert werden. Liefe er droben im Tageslicht, beföhle seine Scham und seine Niedrigkeit seinen Blick immer zum Boden gesenkt zu halten. Die Klos der freien Bürger schütten ihre Abwässer auf seinen Schädel. Die Nüstern seines gewaltigen, roten Zinken mitten in der Fresse beben über dem üblen Gestank, zu dem man ihn verurteilt hat. Der Schnabel eines Geiers hackt in die Eingeweide seines Opfers. Die eiserne, kantige Kinnlade zermalmt und vernichtet den ihm gewährten Fraß. Sein rohes Maul könnte Nägel zerkleinern. Man hat ihm den menschlichen Knochenkiefer gegen einen aus Eisen ausgewechselt. Warum hat man ihm nicht ein ganzes Skelett aus Eisen eingebaut? Er liebt es hart zu sein. Die felsige Schroffheit seiner Fresse ist eine Bastion gegen das zersetzende Blau und das sehnsüchtige Leuchten der Augen. Der Verbannte räumt gebückt mit der Schaufel den Schlamm und die Scheiße weg. So sind seine Tage ausgefüllt. So werden alle kommenden Tage verlaufen. Jeder hat seinen Platz im Leben zugewiesen bekommen. Andere Verurteilte werden mit schweren Fuß- und Halseisen zusammengekettet zur Arbeit getrieben.
Im Tageslicht unter normalen Menschen würde er hilflos und schüchtern durch die Straßen taumeln. Sein tierischer Gestank. Seine gehärtete Fresse zeigt aller Welt seine rohe Dummheit. Manche Gestalten haben einen Kuhfladen statt eines Gesichtes. Die Stumpfheit seines Tagesablaufes hat ihn verblöden lassen. Nur seine himmelblauen Augen blicken sehnsüchtig in die Ferne. Wohin blicken sie? Schwarze, feuchte Mauern setzen dem Blick enge Grenzen. Kann er überhaupt sprechen oder käme nur ein hartes Grunzen über seine Lippen? Man bewunderte seine klare, tiefe Männerstimme. Seit Jahren hat er kein Wort mehr gesprochen. Er hat hier nichts zu melden. Man sagt ihm, was er zu wollen hat.
Hinter dem dicken, dreckverkrusteten Gummi des Stiefels und der Stahlkappe dehnt sich das feuchte Fleisch seiner gewaltigen Quanten aus. Weißes, feuchtes Fleisch schwitzt. Nasser, käsiger Gestank wird vom harten Gummi im engen Fußkerker gefangen gehalten. Man bewunderte früher diesen Jüngling für seine Schönheit. In seinen überdimensionalen Füßen steckt mehr Kraft als in jedem noch so trainierten Bizeps. Das Wesen des Mannes liegt in seinen Füßen. Die Gesichtshaut des Kanalräumers glänzt von Schweiß, von Lust. In den Kellern der Eingeweide fließt Braunes und Gelbes. Wirre Labyrinthe, denen niemand entrinnen kann, laufen ohne Ziel und Mittelpunkt immer weiter. Alles fließt oder bleibt an einigen Stellen stehen oder verfestigt sich zu einem verseuchenden Brei. Die Seele des Mannes ruht im Arsch.
Der Arbeiter erscheint tief im Dunkel der Kanalisation. Ein Spross der Scheiße. Keine Mutter nimmt die Schande auf sich ihn zur Welt gebracht zu haben. Einen Mann.

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© 2023 Michael Wiedorn
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