Der letzte Satz

Von Dorothea Lesche

Meine Mutter fürchtete die Schlangen.

So stand er auf dem Papier, der erste Satz. Für ihre Mutter wollte sie diesen Aufsatz schreiben. Thema „Ein Gefühl“, Abgabezeitpunkt 10:00 Uhr. Rechts oben an der Wandtafel lauerte die Zehn: eine Eins und eine Null, ein Doppelpunkt und zwei Nullen, eingekreist in Rot und Gelb und Grün. Der Lehrer liebte es, farbige Kreide zu benutzen und er liebte es, die Kreide schräg zu führen für eine besonders breite Linie. Bevor er diese Kreise schwang, hatte er die Kreidestücke auf einem Punkt hin- und hergedreht, als wollte er ein Feuer entfachen und als wollte und wollte es nicht brennen. Und dann, ganz plötzlich, waren Rot und Gelb und Grün nach oben geschwungen und Flammen loderten über den Tafelrand. Loderten hoch und höher, schlängelten sich weg von der Tafel, schlängelten sich in den Klassenraum, wehten auf und nieder, wehten hierhin und dorthin, als wäre die Zehn ein Sturm, der sie vorantrieb. Wehten zu ihr an den Platz. Schlangen sich um den Tisch und aufs Papier, dass die Hand daraufklatschen musste, um den ersten Satz zu retten. Flammen, rot und gelb und grün, schlangen sich an den Beinen hoch, dass Funken in den Körper sprühten. Schlangen sich um den Hals, dass ihr die Luft wegblieb. Loderten in ihr Gehirn, schlängelten sich um den roten Faden, an dem die Sätze hingen. Wollten Wort um Wort verbrennen. Feuerschlangen. Schlangenfeuer. Ihr Kopf verwandelte sich in ein einziges Glühen, schnellte hoch aus dem Feuer, schüttelte es ab. Ihre Finger wühlten im Haar durch die Schlangen, krallten den Rest des roten Fadens heraus, vergruben ihn unter dem ersten Satz.

Meine Mutter fürchtete die Schlangen.

So stand er noch auf dem Papier, der erste Satz. Die Wörter glühten noch und ihr Körper glühte noch. Sie riss das Tuch von den Schultern. In dem Ahornbraun der Wolle wühlten ihre Finger, als würden sie den roten Faden suchen. Drückten die Wolle zu einem Knäuel zusammen, als könnten sie die Farbe herauspressen und das Leben. Ahornbraun war die Lieblingsfarbe ihrer Mutter gewesen. Und Purpurrot.

Meine Mutter fürchtete die Schlangen.

Warum, Ariadne, warum. Ihre Mutter wollte nie Mama, Mami, Mom sein. Sie wollte auch mit drei Kindern sie selbst sein, Ariadne. Warum, Ariadne, warum.

Es wird eine Zeit geben, da werde ich dir erzählen, warum. Da werde ich dir erzählen von den Schlangen. Ich werde dir erzählen von meinem Unglück, von dem deiner Großmutter und deiner Urgroßmutter. Ich fürchte, es wird auch dein Unglück sein. Ich fürchte die Schlangen. Ich … ich …

Ich fürchte die Schlangen.

So stand er in der Luft, der letzte Satz. Es hatte die Zeit nie mehr gegeben. Dass es so schnell geht, hätte man nicht gedacht, sagten die Leute. Es ist gut, dass es so schnell gegangen ist, sagten die Leute. Was wie schnell geht und was wie schnell gegangen ist, sagten sie nicht. Die Worte der Leute standen leer in heißer Luft, eingerahmt in Schwarz und Weiß. Die Leute liebten es, leere Worte zu benutzen und sie liebten es, die Worte in Schwarz und Weiß zu rahmen. Bevor sie den Rahmen setzten, hatten sie Wort für Wort festgeklopft, als sollte sich keines vorwärtsbewegen. Und dennoch schlängelten sich Worte davon, flammten auf in der heißen Luft, schlängelten sich durch Leben und Sterben und Tod. Spuckten Feuer, bis Leben und Sterben und Tod in Flammen standen. Sie wollte den Leuten eigene Worte, dicht gefüllt, entgegenwerfen. Wollte die Worte der Leute auslöschen. Aber Flammen, schwarz und weiß, schlängelten sich in ihren Mund, wollten Wort um Wort verbrennen. Feuerschlangen. Schlangenfeuer. Ihr Mund verwandelte sich in ein einziges Glühen, schrie das Feuer weg. Ihre Finger wühlten im Haar durch die Schlangen, krallten den Rest des Purpurrot heraus, vergruben ihn unter dem letzten Satz.

Meine Mutter fürchtete die Schlangen.

So stand er noch immer auf dem Papier, der erste Satz. Die Wörter glühten noch immer. Und noch immer sprühten Funken. Sprühten in Stift und Hand, in Brust und Kopf. Brannten sich in ihr Gehirn, wo das Unglück ihrer Mutter, ihrer Großmutter und ihrer Urgroßmutter um Worte rang.

Sie wollte sich all das Unglück aus dem Gehirn schreiben, wollte es mit ihren Sätzen auf das Papier bannen. Wollte das Unglück unter dem ersten Satz und unter dem letzten Satz vergraben, bevor es ihr eigenes Unglück werden konnte. Sie wollte es besiegen mit einer 1,5 im Abitur. Für ihre Mutter wollte sie diese Note schaffen. Für Ariadne und ihren letzten Satz.

Wo war jetzt der Faden, der rote, purpurrote. Damals hatte sie ihn verloren. Damals, als sie nur noch für diese 1,5 gedacht, gefühlt, gelebt hatte. Damals, als ihre Mutter „Feuer! Feuer!“ schrie und sich im Bett krümmte, als wäre sie von Schlangen besessen. Feuerschlangen. Schlangenfeuer. Ein Kopf, der Kopf ihrer Mutter, verwandelte sich in ein einziges Glühen, zuckte hoch, fiel zurück. Finger, die Finger ihrer Mutter, kratzten auf dem kahlen Kopf, krallten das letzte Blut heraus, vergruben es in der Wolle. Purpurrot färbte sich der Faden.

Ein Tuch aus ahornbrauner Wolle mit einem purpurroten Faden dazwischen. Purpurrot zwischen Laborwerten und CT, zwischen Husten und Erbrechen, in Windeln, am Tropf. Ihre Mutter, die nie Mama, Mami, Mom sein wollte, die sie selbst, Ariadne, sein wollte – Ariadne wollte das Unglück nicht mehr besiegen. Aus Unglück und Blut und Feuer häkelte Ariadne ein Tuch. Ahornbraune Wolle mit einem purpurroten Faden dazwischen. Masche um Masche hin zur 1,5.

Meine Mutter fürchtete die Schlangen.

Sie würde die 1,5 um eine Rose, eine purpurrote, hüllen und würde sie hinabfallen lassen auf das Ahornholz. Auf Ariadne, auf Großmutter, auf Urgroßmutter.

Ich fürchte die Schlangen … der Faden, rot, purpurrot … Meine Mutter fürchtete die Schlangen.

Sie schrieb Satz für Satz.

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