Ödipus

Von Johannes Morschl

Der Name des Mannes, der hier seine Geschichte erzählt, könnte Ödipus sein, denn seine Geschichte ist jener von Ödipus, wie sie von Homer, Sophokles und anderen erzählt wurde, in gewisser Weise ähnlich, auch wenn es einige nicht unwesentliche Unterschiede gibt.

Ich wurde im Jänner 1941 in Wien geboren. Österreich gehörte damals seit März 1938 zu Hitlerdeutschland. Mein Vater, der von Beruf Maurer war, wurde bereits vor meiner Geburt, im November 1940 zur deutschen Wehrmacht eingezogen und ein Jahr später nach dem Überfall Hitlers auf Russland nach Russland abkommandiert. Aus Russland kam ab und zu Feldpost von ihm, doch irgendwann kam nichts mehr. Als meine Mutter bei der Wehrmacht nach seinem Verbleib fragte, konnte oder wollte man ihr keine Auskunft geben. Erst nach dem Krieg erfuhr sie, dass er noch lebte und sich in russischer Kriegsgefangenschaft befand. Ich muss ehrlich gestehen, dass er mir nicht gefehlt hat. Bevor er nach Russland geschickt wurde, sah ich ihn wohl ab und zu, wenn er für ein Wochenende nach Hause fahren dufte. Er war in einer Kaserne in Niederösterreich nicht allzu weit von Wien entfernt stationiert. Aber ich konnte mich an seine Wochenendbesuche nicht erinnern, ich war ja damals noch ein Baby. Meine Mutter hat mir zwar später, als ich schon etwas größer war, Schwarz-Weiß-Fotos von ihm gezeigt, darunter auch ein Foto von ihrer Hochzeit, aber ich fühlte nichts besonderes dabei. Er war für mich ein Fremder. Außerdem schien es mir normal zu sein, dass die Väter abwesend waren. Ich war ja nicht das einzige Kind, dessen Vater im Krieg oder in Kriegsgefangenschaft war. Allerdings malte ich mir nicht wie andere Kinder aus, wie schön es sein würde, wenn Papa wieder zurückkommt, ja ganz im Gegenteil, ich fürchtete mich davor.

An einem Tag im Mai 1950 stand er dann plötzlich vor unserer Tür. Die Russen hatten ihn aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Meine Mutter hat ihn im ersten Moment garnicht wiedererkannt, weil er so alt und verwahrlost aussah und bis auf die Knochen abgemagert war. Als ich diesen schrecklich aussehenden Mann erblickte, klammerte ich mich an meiner Mutter fest und rief in Panik: „Der Feind ist da! Der Feind ist da!“ Auch in der Folgezeit, als er wieder bei uns wohnte, blieb er für mich ein Feind, ein wie aus dem Nichts aufgetauchter Eindringling in das vertraute Leben von meiner Mutter und mir. In den Jahren seiner Abwesenheit hatten wir ja nur uns. Nachts lagen wir eng aneinander geschmiegt in dem einzigen Bett, das wir besaßen. Dabei griff ich immer nach ihren Brüsten und spielte an ihnen herum, bis ich einschlief. Damit war es ab dem Tag, an dem mein Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam, vorbei.

Unsere Wohnung befand sich im 2. Stock einer grauen Zinskaserne in der Brigittenau, dem 20. Wiener Gemeindebezirk. Sie bestand aus einem Schlafzimmer und einer Küche, die gleichzeitig auch unser Wohnzimmer war. Wenn man die Wohnung betrat, war man gleich in der Küche, da es keinen Vorraum gab. Es gab auch kein Badezimmer, kein Innenklo und nicht einmal einen Wasseranschluss. Wasser musste man von draußen am Gang holen, wo es an der Wand eine Bassena gab, ein kleines gusseisernes Becken mit einem Wasserhahn darüber. Auch das Klo befand sich draußen am Gang. Es wurde von allen vier Mietparteien, die in dem Stockwerk wohnten, benutzt. Mein Vater organisierte eine Matratze für mich, die er in eine Ecke des Schlafzimmers legte. Das war ab nun mein neuer Schlafplatz, auf dem ich mir wie ein Hund vorkam. Manchmal knurrte ich in der Nacht wie ein Hund, um meinen Vater beim Besteigen meiner Mutter zu stören. Es ging bei ihm immer schnell. Nach einer kurzen Zeit des Rammelns und Schnaufens fiel er zur Seite und begann zu schnarchen. Ich litt dabei immer Höllenqualen und wünschte mir, dass er wieder verschwindet.

Er fand bald eine Arbeit am Bau. Dort fing er zu saufen an. Die tranken dort schon während der Arbeit Bier und gingen nach der Arbeit noch ins Wirtshaus. Mit den Besäufnissen war es besonders an den Samstagen schlimm, wenn der Wochenlohn ausbezahlt wurde. Damals gab es noch keine 5-Tage-Woche und der Lohn wurde nicht monatlich, sondern wöchentlich ausbezahlt. An den Samstagen kam mein Vater immer erst spät abends nach Hause, torkelte sternhagelvoll durch die Wohnung und rief wirres Zeug, wie: „Das Gewehr über! Reechts um! Im Schriitt Marsch!“ Oder er rief: „Fliegerangriff!“, warf sich der Länge nach auf den Boden und suchte Schutz unter dem Bett. Manchmal begann er eine unsichtbare Person anzusprechen, offenbar einen Russen. Er streckte die rechte Hand aus und rief: „Towarischtsch! Papirossa! Papirossa!“, was wohl bedeuten sollte, dass er um eine Papirossa-Zigarette bettelte, eine dieser primitiven, billigen russischen Zigaretten mit Machorka-Tabak und einem Mundstück aus Pappe, die von den russischen Wachmannschaften in den Lagern geraucht wurden. Er versoff immer öfter seinen Wochenlohn und wir mussten mit dem wenigen Geld auskommen, das meine Mutter als Putzfrau verdiente. Meine arme Mutter wurde immer unglücklicher. Bald gehörte Streit zu unserem Familienalltag. Wenn mein Vater besoffen war, beschimpfte er meine Mutter als Hure, weil er sich einbildete, sie hätte es in den Jahren seiner Abwesenheit mit anderen Männern getrieben. Meine Mutter schimpfte zurück: „Du Säufer! Du Versager! Du stürzt uns noch ins Unglück!“ Manchmal begann er dann zu heulen und rief: „Ihr Toten, ihr Toten, ich will zu euch!“ Wer weiß, welche Toten er da alle meinte.

Jede Nacht sehnte ich mich danach, wieder neben meiner Mutter im Bett zu liegen, und ich überlegte, wie wir diesen Heimkehrer, der nicht wirklich heimgekehrt, sondern geistig und seelisch im Krieg und in der Kriegsgefangenschaft geblieben war, wieder loswerden könnten. Dann kam dieser Samstag im März 1955, an dem etwas geschah, das alles von Grund auf veränderte. Ich ging damals noch auf die Hauptschule. In meiner Klasse war ich gefürchtet, weil ich bei den üblichen Raufereien unter Klassenkameraden derart wild und verbissen kämpfte, dass selbst die Stärksten vor mir Angst bekamen. Bei diesen Raufereien kämpfte ich im Grunde genommen immer gegen meinen Vater, und meine Gegner bekamen voll meine Wut auf ihn ab. An dem besagten Samstag kam er so gegen Mitternacht stockbesoffen nach Hause und begann wieder meine Mutter als Hure zu beschimpfen. Sie schimpfte zurück und da schlug er zum ersten Mal zu. Meine Mutter hielt sich instinktiv zum Schutz die Arme vor das Gesicht, was sich im nachhinein als sehr gut erwiesen hatte, da sie kein blaues Auge oder andere sichtbare Spuren von Schlägen im Gesicht hatte. Schon davor hatte ich bei jedem Streit zwischen den beiden mit meiner Mutter mitgelitten und hasste diesen Mann, der mein Erzeuger war. Als er aber nun auf sie einschlug, krampfte sich mein Herz zusammen und ich sah rot. Ich holte einen großen schweren Hammer aus seinem Werkzeugkasten, der in einer Ecke der Küche auf dem Fußboden stand, und stürzte mich von hinten auf ihn. Ich schlug ihm mit dem Hammer so lange auf den Kopf, bis er blutüberströmt zusammenbrach und sich nicht mehr rührte. Im ersten Moment erschrak ich über meine Tat, doch dann empfand ich ein Gefühl der Befreiung.

Meine Mutter reagierte erstaunlich gefasst. Aus ihrem Mund kam kein einziger Ton des Entsetzens oder der Klage. Zuerst überprüfte sie, ob er noch lebte oder tot war. Nachdem sie seinen Tod festgestellt hatte, hatte sie auch gleich eine Idee, wie wir den Toten verschwinden lassen könnten. Wir rollten ihn in eine alte Decke ein und banden sie mit einem Strick zusammen. Danach schleiften wir ihn so leise als möglich das Stiegenhaus hinunter, was ziemlich anstrengend war, und bugsierten ihn unten auf einen dreirädrigen Karren, der im Hinterhof stand und von den Hausbewohnern für den Transport von Kohlensäcken und anderem schweren Zeug verwendet wurde. Im Karren lag eine Plane, mit der wir den Toten bedeckten. Dann schoben wir den Karren durch die dunklen menschenleeren Gassen bis zum Ufer der Donau, in deren Nähe wir wohnten. Dort luden wir den Toten ab, schleiften ihn die Uferböschung hinunter, befreiten ihn aus der Decke und rollten ihn in die Donau, die dort mehrere Meter tief ist. Sicherheitshalber hatten wir auch den schweren Hammer, mit dem ich ihn erschlug, mitgenommen. Den warfen wir auch in die Donau. Als wir wieder zu Hause waren, beseitigte meine Mutter sorgfältig die Spuren der Tat. Die Decke, in die wir ihn eingerollt hatten und auf der sich Blutflecken befanden, haben wir wieder mitgenommen und zerschnitten sie zu Hause in kleine Stücke, die wir in unserem Kohlenofen verbrannten.

Nach zwei Tagen meldete meine Mutter meinen Vater als vermisst. Ein paar Tage später kamen zwei Kriminalbeamte bei uns vorbei, stellten eine Menge Fragen und schauten sich in der Wohnung um, konnten aber nichts Verdächtiges finden. Nur als sie in den Werkzeugkasten in einer Ecke der Küche schauten, bekam ich kurz einen Schreck, aber sie konnten ja nicht wissen, dass sich außer dem normalen Hammer und einem kleineren Hammer, die neben anderen Werkzeugen im Werkzeugkasten lagen, noch ein schwerer Hammer darin befunden hatte. Sie befragten auch unsere Nachbarn, ob ihnen irgendetwas aufgefallen wäre, aber die hielten sich bedeckt, denn laute Streits und Handgreiflichkeiten gab es auch bei ihnen. Die Arbeitskollegen meines Vaters sind höchstwahrscheinlich auch von der Polizei befragt worden. Und vermutlich hat die Polizei sich auch in dem Wirtshaus, in das mein Vater nach der Arbeit ging, umgehört. Jedenfalls hatten wir danach Ruhe von der Polizei.

Meine Mutter wusste zwar, dass es Wasserleichen irgendwann wieder nach oben an die Wasseroberfläche treibt, da sich Gase in der Leiche bilden, aber durch die Strömung der Donau würde man die Wasserleiche irgendwo östlicher in Richtung Hainburg und Bratislava finden, falls man sie überhaupt finden würde und sie nicht irgendwo im Gebüsch oder Schilf am Uferrand hängen und unentdeckt bleiben würde, wobei Schilf eigentlich unwahrscheinlich ist, da es nur in eher stillen Nebengewässern der Donau wie den Wiener Donau-Auen wächst. Sollte man sie jedoch finden, so würde man auch die Wunde am Kopf entdecken, würde aber nicht nachweisen können, wer dem Toten die tödliche Verletzung zugefügt hat, bzw. wie es zu dieser Verletzung gekommen ist. Außerdem glaube ich nicht, dass man so eine Tat meiner Mutter oder gar mir, der ich ja fast noch ein Kind war, zugetraut hätte. Jedenfalls wurde meine Mutter nie dazu aufgefordert, eine von der Donau angeschwemmte männliche Wasserleiche in einem Leichenschauhaus zu identifizieren.

Ich fühlte mich damals und fühle mich auch heute nicht schuldig. Ich stelle mir vor, dass mein Vater jetzt bei all den Toten ist, zu denen es ihn immer hingezogen hat. Vermutlich habe ich ihm sogar einen Dienst damit erwiesen, ihn ins Jenseits zu befördern. Nach seinem Tod schlief ich wieder bei meiner Mutter im Bett. Obwohl ich schon 14 Jahre alt war, griff ich wieder so wie früher nach ihren Brüsten, und sie ließ es zu. Ich befand mich damals mitten in jenem Hormonschub, der Jugendliche in diesem Alter verrückt spielen lässt. Mein Penis versteifte sich des Öfteren völlig unvermittelt und befeuchtete meine Unterhose mit Spermatropfen, so als wäre er ein undichter Wasserhahn. Eines Nachts veränderte sich die Beziehung zwischen meiner Mutter und mir. Meine rechte Hand verselbstständigte sich plötzlich und wanderte wie fremdgesteuert zwischen ihre Beine. Sie ließ auch das zu und später noch mehr. Ich möchte aber betonen, dass bei unserem Sex nie etwas Perverses mit im Spiel war. Wir liebten uns immer ganz normal.

Meine Mutter hat sich keinen anderen Mann gesucht und ich mir keine andere Frau. Wir leben heute noch immer zusammen, allerdings in einer größeren und helleren Wohnung, die ich für uns gemietet habe. Ich bin zwar nicht reich, habe aber ein gutes Einkommen. Nachdem ich nach der Hauptschule eine Lehre als Automechaniker gemacht hatte und nach der Gesellenprüfung auch den Meistertitel erwarb, machte ich mich mit einer eigenen kleinen Autoreparaturwerkstatt selbstständig, und die läuft nicht schlecht. Meine Mutter ist heute alt und krank. Sie hat zwei Schlaganfälle hinter sich. Untertags, wenn ich in der Werkstatt bin, kümmert sich eine von mir bezahlte Frau aus der Nachbarschaft um sie. Einmal in der Woche kommt auch eine Krankenschwester vorbei. Nach der Arbeit und an Wochenenden und Feiertagen kümmere ich mich um sie. Nach ihrem zweiten Schlaganfall ist sie inkontinent und geistig verwirrt geworden. Sie weckt mich manchmal mitten in der Nacht, weil sie sich einbildet, es sei Zeit fürs Frühstück, oder weil ihr irgendetwas eingefallen ist, das sie mir unbedingt sofort mitteilen muss. Gestern nachts hat sie mich aus dem Schlaf gerüttelt und in einem seltsam sachlichen Ton zu mir gesagt: „Wenn dein Papa aus Russland zurückkommt, wird alles wieder gut.“ Ich erwiderte: „Mama, Papa ist schon lange tot.“ Sie murmelte: „Mausetot, mausetot.“ Dann begann sie den Donauwalzer von Johann Strauß zu summen, bis sie endlich wieder einschlief.

Jetzt, wo ich das alles aufgeschrieben habe, spüre ich zum ersten Mal Trauer um meinen Vater. Er war seelisch kaputt, als er aus Russland zurückkam, meines Erachtens irreparabel kaputt. Ich werde ab jetzt an seinem Todestag immer zu der Stelle am Donauufer gehen, wo wir ihn in der Donau versenkt haben, und ein paar Blumen in die Donau werfen.

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