Von Michael Wiedorn
An diesem sonnigen Januarsonntag ist es schon frühlingshaft warm. Ich bin voller trügerischer Hoffnung und laufe vom Hohenzollernplatz aus immer in Richtung Westen – immer westwärts, bis ich in unendlicher Zeit – ich bin schon längst beim Marsch verstorben – an der Atlantikküste ankomme. Mein vergehendes Leben hat ein klares Ziel. Ich gehe die Schwerereiterstraße vorwärts. Aus Kaisers´ Zeiten galoppieren riesige Abteilungen feuerschäumender Schlachtrösser an mir vorbei. Rohes, unförmiges Schwarz, das in den Untergang zieht – in den Ersten Weltkrieg. Am Nordbad vorbei – einem roten Klinkerbau – an einem Laden vorbei, in dessen Schaufenstern Bauprojekte gezeigt werden. München baut. München sucht seinen Platz im Einundzwanzigsten Jahrhundert. Schwere Reiter. Männer mit granitharten Körpern wie erstarrte Kriegerdenkmäler reiten auf Pferden, deren pulsierende Muskeln von glänzendem, schwarzem Fell überzogen sind. Verbissene Kindergesichter unter Pickelhauben. Früher standen hier große Kasernen. Auf der rechten Seite der Straße breitet sich eine weite Fläche wie eine Steppe aus. Deutschland hat alle Kriege verloren. Der Kalte Krieg ist vorbei. Die Kasernen sind abgerissen worden. Hier steht nur noch ein verlassenes, altes Ziegelhaus. Ein hoher, schwarzer Eisenzaun – stellenweise rostig rot – wird von grauen Steinpfosten unterbrochen. Die Tore sind von einer schweren Eisenkette verrammelt. In den Fenstern lauert die Nacht langjähriger Verlassenheit. Hier spukt abgelaufenes Leben. Auf der weiten Fläche hinter dem Haus breitet sich die nackte, braune Erde unter der Wintersonne aus.
Auf der linken Seite der Schwerereiterstraße steht eine Reihenhaussiedlung aus dem Dritten Reich. Klein bis kleinlich von gezwungener Gemütlichkeit. Wer nicht gemütlich ist, wird standrechtlich erschossen! Alle Häuser sind in einem geradezu sehenswürdig hässlichem Ocker gestrichen. Kerndeutsche Giebeldächer. Die Häuser sind bewohnt, aber verfallen und verwahrlost. Sie warten wohl auf die Abrissbirne. Das Holz der massiven Fensterläden, die mit abbröckelnder Farbe gestrichen sind, sind völlig morsch. Kleine Steintreppen führen zu den Haustüren hoch. Eine Häuserreihe ohne Vorgärten steht unmittelbar an der Straße. Diese Bauten könnten unbewohnt sein. Die Trostlosigkeit verlassener Zimmer. Vielleicht wohnen in den anderen Reihenhäusern arme Rentner. Ehemalige Wehrmachtsangehörige kurz vor dem Verröcheln und Sozialfälle, die vor Jahrzehnten aus dem reich gewordenen Stadtinneren hier eine bescheidene Behausung zugewiesen bekommen haben. Vom Krieg und der Modernisierung Übriggelassene, Vergessene. In der Jugend granitharte Körper, die von harter Knochenarbeit und dem Zahn der Zeit grau und zerfressen sind. Sie hatten nicht die Ehre zu rechter Zeit zu Denkmälern zu versteinern.
Ich blicke in eine kleine Seitenstraße. Verwahrloste Gärten mit vergessenen Gemüsebeeten, Disteln, Brennnesseln. In der Ferne erhebt sich die Rückseite eines alten Mietshauses in den blauen Himmel. Die Balkone sind schon vor Jahren heruntergestürzt. Die ehemaligen Balkontüren sind bis zur Hälfte mit dünnen Eisenstangen gesichert. München ist arm. Jeder Stadtbewohner baute sich sein Gemüse selber an – auf Anordnung der Obrigkeit wie in jeder anderen Stadt im Großdeutschen Reich. Ich gehe die Schwerereiterstraße, die Leonrodstraße weiter.
Ich überquere die Straße. Eine öde Straße. Auf der Straßenseite, auf der ich gehe, liegen locker bebaute Grundstücke mit behälter- und containerähnlichen Behelfsbauten – grau oder weiß. Auf der anderen Seite, die ich vorhin lief, ziehen sich die verödeten Brachflächen hin. Eine Straßenbahn fährt mit leichtem Surren und gelegentlichem Klingeln genau in der Mitte der Fahrbahn. Ich schwitze. Ich habe keine Lust mehr weiter zu laufen. Aber schon gar keine Lust die ganze Strecke zurückzulaufen. Meine Absicht war bis tief in den Westen Münchens einzudringen. Immer vorwärts und vorwärts – aber ohne die Benutzung eines Verkehrsmittels. Ich sehe endlich einen Platz mit mehreren Menschen und Wohnhäusern. Hier fängt wieder so etwas wie Stadt an. Einige Straßen führen von diesem Platz aus in verschiedene Richtungen. Auf einem Schild an der Straßenhaltestelle lese ich „Rotkreuzplatz“.
Ich will und muss zum Schloss Nymphenburg. Der Stadtplan, den ich dabei habe, meint, dass ich eine Straße schräg zur Fortführung der Leonrodstraße nehmen müsste. Eine Dom-Pedro-Straße. Wer ist oder war Dom Pedro? Vielleicht ein portugiesischer Pfaffe? Ein dicklicher, älterer Herr in Soutane mit Nickelbrille schwebt durch die Korridore einer alten Siechenanstalt mit barocken Gewölben. Alte und Krüppel humpeln und tasten sich an Stöcken und Krücken und in Rollstühlen an Hochwürden, der sie mit der rechten Hand segnet, vorbei, wobei das freudige Lächeln der Erlösung über ihr Antlitz leuchtet. Schwestern mit riesigen Flügelhauben lächeln durch den Gang. Der wachsbleiche Leib des Heilands blutet an der Wand und schwebt wie ein Hammer in der Höhe, der uns alle zerschmettern will. Das Blut Christi!
Ich will weiter. Westwärts, immer weiter westwärts bis zum Atlantik!
Ich überquere die Straßenbahnhaltestelle und den Rotkreuzplatz. In der Dom-Pedro-Straße befinde ich mich in einem Wohnviertel gehobenen Niveaus. München ist reich. Neue Appartementhäuser. Safrangelb, pfefferminzgrün, ocker, grau. Fade Farben. Vier bis sechs Stockwerke hoch. Wohlhabend, aber nicht Spitzenniveau. Ich langweile mich. Ich altere plötzlich um zehn bis zwanzig Jahre. Ich bin ein älterer Herr von gesitteter Farblosigkeit zwischen Gebäuden von fader Nichtssagendheit. Meine Zukunft wird mir Kuraufenthalte in gepflegten Badeorten bringen und kleine Spaziergänge, deren Eintönigkeit und Langeweile mich zermürben werden. Safrangelb, pfefferminzgrün, ocker, grau.
Herr, blute und lasse uns bluten und zerschmettere uns alle! Schwere Reiter! Granitharte Denkmäler reiten auf Pferden vorbei.
Auf rustikalen Holzbänken einer Gaststätte an einer Straßenecke sitzen Leute und trinken ihr Bier. Ich gehe weiter und höre schon von weitem das gleichmäßige Rauschen einer Autobahn. Die Landshuter Allee. Breit und verkehrsreich. Mir zur linken Seite erhebt sich eine neubarocke Kirche in auffällig hässlichem Grün. Die Ränder und die Ecken der Fassaden sind weiß. Ich betrete das Gotteshaus und stehe unter hohen Barockgewölben. Eine fade Nachahmung der bedeutenden Barockkirchen. Ich lese ein Faltblatt. Diese Kirche wurde in der Weimarer Republik erbaut. Ich bin regelrecht vor den Kopf gestoßen. Die Kirche ist ein Damm gegen die Gegenwart. Unter den schweren Gewölben der Kirche sammelt sich die Zeit an und bleibt wie Blei stehen. Die Republik war schon längst ausgerufen und viele Gläubige träumten noch von den Kurfürsten. Ich fliehe regelrecht aus diesem Gebäude und will weiter. Westwärts!
Ich stehe an der Landshuter Allee. Sie ist eine unüberwindliche Grenze und ich weiß vorerst nicht, wie ich weiter komme. Diese Straße ist eine Schneise durch die Stadt. Links von mir liegt eine Unterführung abwärts. Ein düsterer, unterirdischer Gang mit nachgedunkelten Betonwänden. Auf der anderen Seite gehe ich wieder die Treppe aufwärts. Vor mir liegt jetzt ein Sportplatz. Die Straße immer vorwärts! Ich erreiche einen Platz. Rechts von mir erhebt sich wieder eine Kirche. Ebenfalls eine elende Kopie. Der Platz davor ist länglich und zum größten Teil mit Grünanlagen ausgefüllt. Er ist beherrscht von der neubarocken Fassade eines katholischen Alten- und Pflegeheimes. Helles Beige. Die Fassaden sind mit Karyatiden und Rundbögen verziert. Ein Palast des Elends. Athletische Oberkörper aus Stein ohne Unterleib stützen die Steinmassen der Fassade. Aus einem geöffneten Fenster blickt ein fetter, älterer Mann in Unterhemd auf den Platz. Er steht aufrecht und raucht eine Zigarette. Eine vom Leben verbrauchte und verwahrloste Frau um die Fünfzig mit strähnigen, langen Haaren und Jogginganzug verlässt die Anlagen Richtung Heim. Sie trägt Hauspantoffeln. Sie ist in ihrem Leben sehr früh – zu früh – an der Endstation angekommen – stelle ich mir vor.
Ich gehe die Straße weiter. Auf der anderen Straßenseite erhebt sich ein städtisches Waisenhaus. Der Himmel spiegelt sich in den Fensterscheiben. Die Fenster sind mit festen Isolierrahmen in das Gemäuer eingelassen. Das Waisenhaus ist ein Totenhaus. Das Haus wirkt menschenleer. Es ist versiegelt. Kinder, die ihre Eltern verlieren, werden hier eingefroren und bei Vollendung ihres achtzehnten Lebensjahres zum Leben erweckt. Die in den Fensterscheiben sich spiegelnden Wolken sind zu Eis erstarrt. Ich gehe eine Mauer entlang und komme zum weit geöffneten Eingang und wage nicht das menschenleere Gelände um das Haus zu betreten. Ein unbenutzter, verwahrloster Spielplatz. Weit und breit keine Kinder, keine Erzieher. Wäre das Tor mit einer Eisenkette verschlossen gewesen, hätte ich mehr Zutrauen zu diesem Bau gehabt.
Ich wende mich vom Waisenhaus ab, überquere eine Straße und stehe am Anfang des Kanals, der zum Schloss Nymphenburg führt. Am Beginn des Kanals steht ein Heiligtum. Ein bedachtes, kleines Tempelchen. An den vier Ecken wird das Gebäude von kräftigen Steinpfosten gestützt. An allen vier Seiten bildet ein engmaschiges Eisengitter die Fassade. Geht man sehr nahe an das engmaschige Gitter und bemüht sich durchzuschauen, sieht man in der Mitte des leeren Raumes einen erzenen Löwen auf einem Steinpodest. Heinrich der Löwe gründete 1158 München. Niemand kann sich dem Gott nähern. Er blickt geradeaus auf das aus der Ferne weiß leuchtende Schloss. Auf beiden Seiten entlang des schnurgeraden Kanals Spazierwege. Die Routine gelangweilter Spaziergänger an einem langweiligen Sonntagnachmittag. Man plappert Plattitüden und quält seine Umwelt mit gepflegten Niaiserien. Ich habe jetzt genug.
Schwere Reiter! Rohes, unförmiges Fleisch.
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© 2023 Michael Wiedorn
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