Von Lena Kelm
Bestimmt hat jeder Berliner im Laufe des Lebens irgendwann die Entdeckung gemacht: Berlin gibt es überall auf der Welt. Kleinere und größere Orte unter dem Namen. Die Namensvetter unserer Hauptstadt. In der heutigen Ära der medialen Informanten wie Google Wikipedia und Co kein Wunder.
Mich hat auf die Idee, über Berlin zu schreiben, ein kleiner Beitrag im Tagesspiegel gebracht. Die Reporter haben sich vorgenommen, auf die Entdeckungsreise der Berlins der Welt zu gehe. Einmal geht es um Berlin in Australien, ein Ort, der irgendwann von Bewohnern allmählich verlassen wurde wegen der extremen Hitze bis 50 Grad Plus. In dem kleinen Berlin in Vermont herrscht im Winter „saukaltes“ Wetter. Hier liegt der Schnee einige Meter hoch. Als ich diese Zeilen las, überkam mich das Deja-Vu – Gefühl.
In dem Berlin, das ich kannte, gab es beides: im Sommer bis 40 Grad, im Winter Schneeberge und Temperaturen bis 40 Minus. Der Unterschied besteht darin, dass dieser Ort auf keiner Weltkarte wie Google zu finden war oder ist. Es ist das nordkasachische Berlin. Es war auch kein selbständiger Ort, sondern ein Ortsteil von Maikain einer Arbeitersiedlung „städtischen Typus“ – offizielle administrative Bezeichnung. Es gab in dieser Siedlung, in der ich meine Kindheit und Jugend erlebte, noch einen Ortsteil, der Shanghai hieß. Die zwei Ortsteile hatten kein ausgeprägtes Zentrum, sie teilte eine Straßenkreuzung. Die Siedlung, die bis Ende der 40er-Anfang der 50er ein Aul – kasachisches Dorf war, bekam den Status der Arbeitersiedlung mit dem Zuwachs der Bewohnerzahl durch zwangsumsiedelte Tschetschenen, Juden und Deutsche, sowie meine Eltern.
Die Zuwanderer standen unter Kommandantur-Aufsicht bis 1956 und viele wurden wie mein Vater aus dem Gulag hierher transportiert. Übrigens war Maikain bis 1953 eine Gulag-Abteilung. Auch nach 1956 durfte niemand in die Heimat zurück. Dadurch geriet Maikain in seine besten Jahre. Es boomten der Wohnbau, die Wirtschaft, das gesellschaftliche Leben. Viele Neuankömmlinge bezogen die erst von ihnen erbauten Wohnungen. Unter anderem mein Vater. Er lehnte den Bau eines privaten Hauses kategorisch ab. Und begründete das mit dem Verlust seiner zwei Häuser mit ganzem Hab und Gut durch Enteignung infolge der Revolution 1917 und den zweiten Weltkrieg. Vater sagte wörtlich: “Für diese Räuberregierung baue ich nie wieder.“ Die Aussage war natürlich für die Ohren der Familie gedacht.
Ein großer Teil der fleißigen Deutschen, besonders die von der Wolga stammenden Schwaben, wie mein Vater sie nannte, bauten trotzdem. So entstand der Ortsteil Berlin. Der sich von Shanghai und dem zentralen Teil um die Straßenkreuzung, in dem wir lebten, unterschied sich von Berlin gravierend. In Berlin wohnten nur Deutsche, die deutsch sprachen, aber ich glaube, die Russen nannten den Teil Berlin auch noch aus einem anderen Grund. Der Namen war ihnen durch die Eroberung 1945 bekannt. Shanghai nannte man, weil die Augen der Kasachen der den Chinesen ähnelten. Deutsche sahen eher wie Russen aus.
Aber Berlin war das krasse Gegenteil von Shanghai und dem russischen Zentrum. Hier standen die Einfamilienhäuser in Reih und Glied die Straße entlang. Schon die Einhaltung dieser Ordnung beäugten die Anderen ungläubig. Das Äußere: der gestrichene Zaun, getünchte Fassade, gestrichene Fensterläden, gefegter Hof, kiesausgelegter Gehweg erschienen fast exotisch. Dann fielen die Spitzengardinen und Blumen auf den Fensterbrettern, Typisch deutsch, hieß es. Und war es auch Dieses Berlin entstand dank Nachkommen der Deutschen, die vor 200 Jahren die Zarin Ekaterina nach Russland einlud. Danke der weitergegebenen Tugenden wie Fleiß und Ordnung. Heute gibt es das Berlin nicht mehr. Die Einwohner kehrten zu ihren Wurzeln zurück.
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