Wie die Toten leben

Von Michael Wiedorn

Es ist ein verschneiter Sonntagnachmittag in einem Altenheim in Moosach. Ich steige mit meiner sechsundachtzigjährigen Mutter aus dem Fahrstuhl. Ich öffne die verglaste Flügeltüre und wir betreten einen großen Saal, vollgestellt mit Tischen und Stühlen. Mehrere alte, allzu alte Menschen sitzen über den ganzen Raum verstreut. Haben sie den richtigen Zeitpunkt zum sterben versäumt? Wann versteht man, dass der rechte Zeitpunkt gekommen ist? Sie starren vor sich hin ohne etwas wahrzunehmen. Angesichts des zähen Breies ereignisloser Tage und noch mehr ereignisloser Tage und einer leeren Zukunft, die nur ein immer tieferes sich Verlieren in die sich verdichtenden Nebeln der Demenz bringt, verliert alles jede Bedeutung. Die Behauptung, sie würden auf den Tod warten, würde ihnen zumindest ein Minimum an Spannkraft unterstellen. Durch die großen Fensterscheiben sehe ich auf weiße und graue Schneeflächen und das feuchte, schwarze Holz der laublosen Bäume. Es ist mucksmäuschenstill in dem mit Menschen gefüllten Saal. Was soll man noch sagen? Der Eine würde aus der Tiefe seiner Demenz durch dichte Wolken und Nebel in die Abgründe einer anderen Demenz rufen. Jeder ist hier ein von Nebelwänden abgeschlossener Kontinent. Nachdem ich einige Zeit schon am Tisch mit meiner Mutter sitze, fallen mir einige jüngere Leute um die Sechzig und Siebzig auf. Junge Leute. Wohl die Kinder der Uralten. Sie sitzen ebenfalls schweigsam und noch mehr ratlos an den Tischen. Wie schnell sie sich hier an das Tote angepasst haben!
Meine Mutter musste wegen eines Dekubitus vor kurzem einen Monat lang reglos in ihrem Zimmer im Bett liegen und durfte sich absolut nicht bewegen. Immer den Blick an die Decke oder aus dem Fenster auf den grauen Novemberhimmel gerichtet. Vor ihrem Eintritt ins Altersheim lag sie im Krankenhaus und fiel den Ärzten auf, dass sie nicht das geringste Bedürfnis zu irgendeiner Betätigung hatte. Sie war völlig wach und bei Sinnen und tat buchstäblich nichts. Sie starrte den Tag bloß die leere Wand an. In der Dämmerung blickte sie in das sich verdichtende Dunkel.
Wenn sie weiter hier im Heim bleibt, wird sie hier nicht mehr rauskommen. Sie wird bleiben und bleiben und nichts veranstalten. Sie liegt im Raum wie ein Tisch oder eine Kiste im Raum liegen. Was sollen solche Gegenstände schon veranstalten? Falls sie jemals in ihre eigene Wohnung zurückkehrt, sitzt sie auf ihrem Biedermeierstuhl im Wohnzimmer und wird sitzen bleiben wie eine von anderen hingestellte Sache. Der Fernseher läuft in Endlosschleife um in die lähmende Totenstille Geräusche zu bringen. Leben ist Lärm. Meiner Mutter sind Geschichten und Tatsachen Wurst. Das ist alles für die Lebenden. Auf der Mattscheibe reißt eine junge Frau ihr Maul auf, grinst und plappert irgendetwas. Meine Mutter sieht auf eine Ecke des Zimmers. Ihr Blick steigt die Wand hoch bis zu einem Fleck auf der Zimmerdecke. Dann blickt sie wieder auf die Mattscheibe. Sie ist vielleicht nicht ganz so tot wie die Toten, die im Heim leben. Eine in ihr verbliebene, orientierungslose Anspannung lässt sie den ganzen Tag nervös ihre Hände reiben, als müsste sie eine rätselhafte Verunreinigung abwaschen. So bleibt sie auf dem Stuhl, abgesehen von wenigen, kurzen Fernreisen in die Küche oder aufs Klo. Es vergehen die Tage. Es vergehen die Wochen, die Monate, die Jahre. Abends geht sie ins Bett.
Wir sitzen jetzt in der Cafeteria des Altenheimes. Der endlich erreichte Tod – der Herzstillstand, der plötzliche Blutsturz, der Magendurchbruch – ist eine Kraft des Lebendigen, die hier im Haus fremd und unerwünscht ist, aber sich nicht des Hauses verweisen lässt und hier immer wieder wie ein Einbrecher eindringt. Der Tod ist nicht nur schlohweiß oder grau wie der lautlose Schnee draußen, sondern kann auch schreien und rot leuchten. Rot leuchtet das Blut der Sterbenden.
Eine Altenheimbewohnerin – viel zu jung – um die Sechzig betritt den Saal und arbeitet sich mühevoll auf den Stock gestützt, vorwärts. Vielleicht hat sie einen oder mehrere Schlaganfälle gehabt. Graue Haare, graues Gesicht, graue und braune Kleidung. Die alte, eigentlich gar nicht so alte Frau stemmt den Stock auf den Fußboden und zieht voller Mühe ihren Kadaver nach.
Über der Cafeteria befinden sich die Stockwerke mit den Wohnräumen der Insassen, den Aufenthaltsräumen, in denen die Alten weiter vor sich hin existieren, weiß gestrichenen Korridoren mit einer etwa dreißig Zentimeter von der Wand abstehenden Holzstange, an der sich weißgesichtige Noch-nicht-tote und Nicht-mehr-lebende festhalten und festklammern und sich zögerlich wie Bergsteiger an ihrem Kletterseil vorwärts kämpfen, als würden sie bei einem Sturz abgrundtief auf harte Felsen prallen und statt am Ende ihrer Reise dem Tod sanft und lautlos in den Schoß zu fallen, ihre gläsern gewordenen Knochen brechen und in noch gesteigerter Verkrüppelung und in noch verdünnterer Lebensverdünnung weiter spuken müssen.
„Amerika, Amerika“ – lallt eine zusammenschrumpfte, von Alter und Krankheit gebleichte Greisin, Von hinten sehe ich über der Rückenlehne des Rollstuhles nur die von dünnem, weißem Haar umgarnte Kopfhaut – von Altersflecken übersät. Die Patientin wird zur großen Fensterscheibe, von der man bei Tageslicht bequem auf die Straße blicken könnte, gefahren. Die für die Außenwelt blinden Augen blicken in das Schwarz der nächtlichen Fensterscheibe. „Amerika, Amerika“ – ruft sie laut. Vielleicht wollte sie als junges, hübsches Mädchen – hätte sie damals in prophetischer Vorausschau ihren heutigen Zustand gesehen, hätte sie sich auf der Stelle die Pulsadern aufgeschnitten – mit einem ebenso jungen, hübschen GI in die USA ziehen und Millionärin werden. Vielleicht hat sie einen Sohn, der dort Karriere macht. Der einzige, von seiner Mutter bewunderte Sohn, der über Meere und Kontinente vor der leidenschaftlichen Liebe seiner Mutter flieht. Er schämt sich dieses Wracks, dem er entsprossen. Früher fuhr man mit dem Schiff und brach endgültig alle Brücken zur Alten Welt ab. Nachts besteigt man eine Fähre, stößt für immer vom Ufer ab, vor sich einen weit in den schwarzen Himmel reichenden Fährmann. Die jenseitigen, dunklen Ufer ohne Vogelgezwitscher – völlig lautlos – sind das Ziel. Sie wurden noch nie von Lebenden betreten. Die Alte starrt aus dem Rollstuhl in die nächtlich schwarze Leere. Eine fette Heiminsassin kräht fröhlich: „Dein Liebster ist in Afrika, nicht in Amerika. Er ist in Afrika.“ Sie prustet vor Lachen – das böse Biest. Ihr sich mächtig vorwölbender Bauch bebt und zittert beim Lachen. Die alte Frau am Fenster – dieses gespenstische Überbleibsel ihres eigenen Lebens – reagiert nicht. Die Worte versickern in den Nebeln der Demenz.
Diese Böse am Tisch hält sich auch schon seit vielen Jahren hier im Heim auf. Sie stammt ursprünglich aus dem Böhmerwald. Von ihrer Mundart ist sie nicht von den hier in München Ansässigen zu unterscheiden. Bei ihrem Anblick denke ich an Blasmusik, an Trachtenfeste, an Schweinshaxe. Nimmt sie den Tschechen ihre Vertreibung aus Böhmen übel? Stand sie als junges, sicher blondes Mädchen Fähnchen winkend Spalier um den Führer und die einmarschierende Wehrmacht begeistert zu empfangen? Die Dicke steht noch am Ufer, von dem sich die Fähre entfernen wird. Die Vögel zwitschern noch an ihrem Lebensabend. Die Böhmin spielt mit meiner Mutter und anderen Insassen Mensch-ärgere-dich-nicht. Die Alten vom Tische sind gewissermaßen die geistig wache und noch nicht ganz hinfällige Elite des Hauses. Im Flur hängen Zeichnungen, die die Mitglieder der Zeichengruppe verfertigt haben. Blasse Zeichnungen. Die Affekte, die bei starken Spannungen oder in der Jugend Ausdruck suchen, schlaffen im Alter ab. Frühere Beamte und Verwaltungsangestellte, deren von der Vernunft gedrosseltes Seelenleben nie besondere Ausdrucksmittel suchte. Lieblos gezeichnete Häuschen mit einfallslos gezeichneten Kugelbäumchen, bewohnt von Strichmännchen. Alles in faden Zeichenstiftfarben. Selbst das Rot ist fahl. Einbildungskraft und Welterleben sind ausgetrocknet.
Die Mensch-ärgere-dich-nicht-gruppe bestehend aus besagter Böhmin, meiner Mutter, einem unscheinbaren, pensionierten Beamten und einer zum Skelett abgemagerten Tirolerin trifft sich jeden Abend an diesem Tisch im Aufenthaltsraum. Die Alten sitzen am Tisch schweigend und warten und warten. Sie schweigen und nichts geschieht. Ist die Zeit stehen geblieben? Sind sie zu Puppen erstarrt? „Pack ma´s“ – ruft die Böhmerin in die lähmende Leere. Man versteht und holt die Schachtel mit dem Spiel heraus. Das Totengerippe aus Tirol ist jetzt hellwach. Sie steht doch noch auf unserem Ufer. Aber ihre sehr tief liegenden Augen sind dick violett-schwarz umschattet. Ihre überdimensionierte, knochige Nase ist von einem Netz aus rot-blauen Äderchen überzogen. Ich fürchte die Berührung ihres Körpers, wie es mich ekelt einen Leichnam zu berühren. Jeder, der dieses Haus betritt, wird mit dem Mehltau des langsamen Absterbens bedeckt und zerfressen.
In der ersten Zeit nach ihrem Eintritt ins Heim wollte meine Mutter mit meiner Hilfe fliehen. Eine etwas gar zu alte Prinzessin, die in dunkelster Nacht vom Prinzen in Rüstung und auf einem Schimmel vor dem Drachen in Gestalt der Altersheimverwaltung und der grausamen Tatsache des eigenen Verfalles zu den lächelnden Gestaden der verflossenen Jugend gerettet wird. Während des Rittes auf dem Ross verwandelt sich die Greisin in das junge Mädchen, das sie einmal vor langer Zeit war. Als Geliebter meiner Mutter bin ich ihr Komplize gegen die übrige Welt.
Beim ersten Telefongespräch nach ihrem Unfall – sie lag noch im Krankenhaus – flüsterte sie ins Telefon: „Wir müssen jetzt stark sein! Ich – deine alte Mutter – und die Ärzte müssen darum kämpfen, dass du nicht blind wirst. Du wirst blind! Ich werde dich pflegen müssen. Ich und der Blindenstock werden dich durch dein zukünftiges Leben führen. Du wirst blind!“ Im Nebel des Alterns und Auslöschens verschwimmt ihr Traum von ihrem Sohn als Ritter auf dem Schimmel in ihren Traum meiner Erblindung. Würde ich sie auf ihre Träume ansprechen, würde sie mich wie aus den Wolken gefallen anblicken und sich aufrichtig Sorgen über meinen Geisteszustand machen. Vor ihrem Dekubitus sah sie sich als eine im Kern junge Frau unfreiwillig bekleidet mit einem gealterten Fleischmantel. Immer mitten im Leben stehend, immer aktiv, immer aktiv wie der Hamster im Laufrad, wie ein mit strammem Schritt Marschierender, der nicht kapiert hat, dass er nicht einen Schritt vorwärts kommt. Sie stand nie im Leben. Sie war nie aktiv. Immer das Radio so laut, dass die Mauern zittern. Das Netz des Verlöschens hat sie schon lange gefangen gehalten. Ihr ist jetzt klar, dass sie wieder Windeln tragen muss. Die Pflegerin nimmt ihr die goldfarbenen Ballerinaschühchen, das letzte Zeichen weiblicher Eitelkeit und gibt ihr graue Filzpantoffeln – grau wie das Alter. Ihr wird schlagartig klar, dass sie schon sehr lange sehr alt ist.
Auf einem für sie viel zu großen Stuhl sitzt eine alte Zwergin. Ist sie erst in ihrem Alter so zusammengeschrumpft? Vielleicht hatte sie eine furchtbare Krankheit, die sie verkürzt hat. Die Lehnen rechts und links ihres Körperchens sind viel zu weit entfernt, dass sie sich auf sie stützen könnte. Sie hat die Arme auf den Tisch vor ihr gelegt. Sie blickt mit buchstäblich tierischem Ernst. Ihr Blick und ihre Gestik sind die einer Schimpansin. Was immer die Schimpansin in ihrem Leben gearbeitet hat, jetzt ist sie dazu verdonnert nichts zu unternehmen. Auf ihrem Schädel wachsen nur so wenige und spinnwebartig dünne Haare, dass man das Tier als kahlköpfig bezeichnen muss. Knapp über der Schläfe breitet sich ein großer, schwarzer Fleck aus. Die Greisin lässt den Blick über die anderen Leute im Raum schweifen. Sie ist von vollendeter Nüchternheit. Nichts hat für sie irgendeine Bedeutung. Sie ist von einer tierischen Toleranz gegenüber allen Erscheinungen menschlichen Lebens. Jetzt will sie vom allzu hohen Stuhl herunter. Sie hebt ihre eine Hand um höflicher weise jemandem, der eben an den Tisch getreten ist, ihren Platz anzubieten. Sie ist plötzlich ganz aufgeregt. Ihre Bewegungen sind hektisch beim vom Stuhl Herunterrutschen. Sie wirkt diensteifrig und unterwürfig mit ihrem todernsten Blick, der vor Dienstleistungseifer nicht zu dem herbei Getretenen hoch schauen kann. Ihr Blick ist mit den Füßen und dem Boden genug beschäftigt. Sie zappelt mit ihren winzigen Beinchen und ist von der verständlichen Angst gepackt von der Stuhlleiste ganz tief hinab auf den Fußboden zu stürzen. Ihre Heimat ist die Stille. Bewegungen machen ihr Angst.
Ich beschließe meine Mutter aus dem Heim zu nehmen. Ich kündige schriftlich. Die Heimleitung schickt mir die Kündigungsbestätigung und gleichzeitig einen neuen Vertrag für unbegrenzte Zeit, auf dem die unterste Linie für mich mit leuchtend gelben Farbstiftkreuzchen angezeigt ist, damit ich gleich unterschreibe und den erneuerten Vertrag an das Heim zurückschicke. Ich setze gehorsamst den Kugelschreiber an um zu unterschreiben, als mir wie eine Erleuchtung in den Sinn kommt, dass die Heimleiterin mich als Deppen einschätzt, den die vielleicht nicht starke, aber sehr kluge Hand einer Heimleiterin oder eines anderen Sozialpflegers zum eigenen Wohl an der Nase durch das Leben ziehen muss. „Unterschreiben Sie! Nicht denken, das können Sie sowieso nicht! Tun Sie einfach, was man Ihnen sagt!“ Ich schmeiße den Stift wütend in die Zimmerecke. Der Sohn einer dementen Mutter ist das unmündige Kind eines unmündigen Kindes. Beide sind die lieben Kinder der Heimleiterin.
Ich besuche meine Mutter im Heim. Die Stationsschwester meint: „Sie holen ja morgen vorzeitig Ihre Mutter nach Hause.“ Ich fühle mich übertölpelt. Davon war vorher nie die Rede. Sie halten mich für einen willensschwachen Idioten. Eine weiche Masse, die man nach seinem Willen bearbeiten kann.
Ich sitze mit meiner Mutter und einer Schwester im Zimmer. Es ist sehr spät am Abend. Der Pflegefall wird gerade ins Bett gebracht. Die Pflegerin strahlt geradezu vor Liebe zu meiner Mutter. Die Schwester strahlt und leuchtet. Meine Mutter sitzt direkt neben der Schwester auf dem Bett. Die Angestellte lächelt mit allen Künsten der Verführung ihr Opfer an immer mit verstohlenen Seitenblicken zu mir. Ich sitze auf einem Sessel und schaue zu wie das Publikum im Theater einem Stück zusieht. Die Schwester schwärmt von der Liebe und Geborgenheit, die allen Pfleglingen zu Teil wird. Meine Mutter sieht mit ausdruckslosem Gesicht zur Seite, als wüsste sie nicht in welchem schlechten Stück in welcher Schmiere sie mitspielen soll. Gute Menschen helfen ihren Mitmenschen, indem sie sie wieder zu Kindern machen.
Auf dem Flur läuft hektisch eine Alte nur mit BH und Schlüpfer bekleidet – sonst ist sie splitternackt. Ihr läuft der Dünnschiss die nackten Beine herunter. Sie schämt sich zu Tode. Sie versucht das Schlimmste zu verhindern, in dem sie ihre Finger in das mit Scheiße beschmierte Loch steckt und dann die dreckigen Finger zum Mund führt und sie ableckt.
Hinter einer Glasscheibe glotzt eine Pflegerin mit ausdruckslosem Gesicht und fest zusammenpressten Lippen.

*

© 2023 Michael Wiedorn
Alle Rechte vorbehalten